Kommt es in der mündlichen Anhörung zu Widersprüchen oder Relativierungen gegenüber dem schriftlich erstatteten Gutachten, ist der Sachverständige (bereits vom Gericht) "gezielt zu befragen" (vgl. BGH NJW 2001, 2791). Ohne entsprechende Aufklärungsversuche liegt keine ausreichende Urteilsgrundlage vor (vgl. BGH NJW 2014, 71, 73 f.), wobei das Ergebnis der "gezielten Befragung" deutlich zu dokumentieren ist.
Zitat
"Wenn es [das Gericht] aus der Erklärung des Sachverständigen, die schriftlich geäußerte Einschätzung sei zu relativieren, folgern wollte, [...] hätte es ihn gezielt in dieser Richtung befragen müssen. Den Entscheidungsgründen lässt sich nicht entnehmen, inwieweit dies geschehen ist. Mündliche Erklärungen von Sachverständigen sind gem. § 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO grundsätzlich im Protokoll festzustellen. Bei einer wiederholten Anhörung oder bei einer mündlichen Erläuterung eines schriftlichen Gutachtens sind jedenfalls die Erklärungen zu protokollieren, die inhaltlich von früheren Aussagen abweichen. Davon darf im Einverständnis mit den Parteien nur abgesehen werden, wenn die an sich zu protokollierende Aussage in einem Berichterstattervermerk hinreichend klar und vollständig niedergelegt wird, damit eine revisionsrechtliche Nachprüfung darüber möglich ist, ob das Berufungsgericht den Sachverständigen in diesem wichtigen Punkt richtig verstanden hat" (BGH NJW 2003, 2311 [Rn 12]).
Ob der Anwalt den Sachverständigen zu Widersprüchen oder Relativierungen selbst befragen, oder diese vielmehr in einem beweiswürdigenden Schriftsatz bzw. im Rahmen der Beweiswürdigungsverhandlung (s. unten 3.) darstellen sollte, ist eine Frage des Einzelfalls und der Parteienrolle (Beklagter oder Kläger). Hält der Anwalt dem Sachverständigen einen Widerspruch vor, ohne sich eines eigenen Sachverständigen zur Unterstützung zu bedienen (Übertragung des Fragerechts, s. unten unter e), gelingt es dem Sachverständigen meist, den Widerspruch zu glätten bzw. für Laien plausibel zu erklären und das Gutachten damit wieder "überzeugend" erscheinen zu lassen. Gegebenenfalls wären aber ein nicht überzeugendes Gutachten und eine Beweislastentscheidung aus Sicht der Partei besser.
Praxishinweis:
Für die kritische Würdigung ist ein gesundes Misstrauen erforderlich. Nicht selten stehen Sachverständige bestimmten Organisationen (z.B. Versicherungen oder Berufsgenossenschaften) oder Verbänden nahe, gelegentlich erfüllt der Sachverständige auch die (impliziten) Erwartungen des Auftraggebers (vgl. Jordan/Gresser DS 2014, 71 ff.).
Einer Kleinen Anfrage von Abgeordneten zu "Medizinische Gutachten in Gerichtsverfahren" (BT-Drucks 17/12673) lässt sich entnehmen:
Zitat
Eine regelmäßig angewendete Methode der Beeinflussung von Gutachterinnen und Gutachtern funktioniert über Aufträge bzw. den Entzug von Aufträgen. So ist in dem NDR-Beitrag "Nein-Sager – wenn Versicherungen nicht zahlen" vom 4.9.2012 berichtet worden, dass Gutachterinnen und Gutachter mit außergerichtlichen Aufträgen 400.000 bis 1.250.000 Euro pro Jahr verdienen. Auf diese Aufträge müssten sie verzichten, wenn sie als gerichtlich bestellte Gutachter gegen die Interessen der Versicherung handelten. Diese Zusammenhänge sind für die einzelnen Gerichte jedoch schwer zu erkennen.
Es geht nicht um Einzelfälle, sondern offenbar um Strukturen, die sicherstellen, dass immer wieder Gutachterinnen und Gutachter Gefälligkeitsgutachten erstellen (vgl. z.B. Dr. Hugo Lanz, Zweiklassenrecht durch Gutachterkauf, Zeitschrift für Rechtspolitik, 1996; Bericht in der taz vom 11. November 2005, "Die Macht der Sachverständigen" u.a.). Es bleibt den Gerichten überlassen, parteiische Gutachten als solche zu entlarven und nicht im Versicherungsprozess zu verwenden. Mitunter müssen sie den Sachverhalt nicht durch, sondern gegen ein vorliegendes Gutachten aufklären.
Ob die neu geschaffene Mitteilungspflicht des § 407a Abs. 2 ZPO die Neutralität des Sachverständigen sicherstellen kann (so BT-Drucks 18/6985, 14), bleibt fraglich. Wichtig kann eine eigene Internet-Recherche des Anwalts sein bzw. die Frage, ob der Sachverständige für eine der Parteien Fortbildungsveranstaltungen durchgeführt oder private Gutachtertätigkeiten entfaltet hat.
Auch ist die "Krähentheorie", d.h., dass manche Sachverständige Behandlungsfehler aus falsch verstandener Kollegialität nur sehr zurückhaltend ansprechen, nicht vollständig verschwunden (vgl. Doukoff, a.a.O., Rn 674). Diese Beobachtung hat der BGH – soweit ersichtlich – bereits 1971 zum ersten Mal angesprochen: "Zur Aufgabe des Tatrichters gehört es gegebenenfalls auch zu prüfen, ob ein Gutachter dazu neigt, Ermessensspielräume im Sinne einer vorfixierten Tendenz auszunützen oder gar auf Tatsachenfeststellungen überzugreifen, die dem Richter vorbehalten bleiben müssen. Daß gerade für medizinische Gutachter im Kunstfehlerprozeß solche Versuchungen aus einer unterschwelligen Standessolidarität mitunter erwachsen können, ist eine Erfahrungstatsache, die kein Richter außer Acht lassen darf" (BGH NJ...