Der Zeuge ist (in Zivil- und Strafprozessen) das wichtigste Beweismittel. Die sog. Aussageanalyse soll ein Hilfsmittel darstellen, um zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden zu können. Innerhalb der Aussageanalyse soll es inhaltliche Elemente geben, die auf den Realitätsbezug hindeuten (sog. Realkennzeichen).
In seinem Urteil vom 30.7.1999 hat der Bundesgerichtshof (Az. 1 StR 618/98) dargelegt: Realkennzeichen haben zwar nur in geringem Umfang indizielle Bedeutung. Sie können aber dennoch als grundsätzlich empirisch überprüft gelten. Ausgangspunkt der Suche nach Realkennzeichen ist die sog. Undeutsch-Hypothese:
„Aussagen über selbsterlebte Begebenheiten müssen sich von Äußerungen über nicht selbsterlebte Vorgänge unterscheiden durch Unmittelbarkeit, Farbigkeit und Lebendigkeit, sachliche Richtigkeit und psychologische Stimmigkeit, Folgerichtigkeit der Abfolge, Wirklichkeitsnähe, Konkretheit, Detailreichtum, Originalität und – entsprechend der Konkretheit jedes Vorfalls und der individuellen Erlebnisweise eines jeden Beteiligten – individuelles Gepräge. Wer etwas erzählt, was er nicht selbst in der Realität erlebt hat, spricht unvermeidlich davon wie der Blinde von den Farben“ (Undeutsch, Handbuch der Psychologie, 1967, S. 125 f.).
An der Richterakademie ist diese Hypothese u.a. durch ein älteres Experiment bestätigt worden. Richter, die tatsächlich an einem Ausflug teilgenommen haben, wurden gebeten, eine Schilderung abzugeben. Gleichzeitig wurde eine Kontrollgruppe von Richtern, die nicht an diesem Ausflug teilgenommen haben, gebeten, eine (fiktive) Schilderung dieses Ausflugs abzugeben.
Anlässlich eines Vortrags („Fehler in gerichtlichen Beweiswürdigungen“), den ich 2016 an der Richterakademie gehalten habe, wurde mir berichtet, dass ein aktuelles Experiment an der Richterakademie die Undeutsch-Hypothese nicht bestätigt habe. Das wiederum scheint eine These zu erhärten, die ich seit langem vertrete: Nach meiner (nicht repräsentativen) Erfahrung sind die sog. Realkennzeichen in der alltäglichen Gerichtspraxis kaum geeignet, eine wahre von einer unwahren Aussage abzugrenzen (Ausnahme: Vergewaltigungsfälle). Das liegt daran, dass Realkennzeichen sowohl in wahren als auch in erlogenen Aussagen vorkommen.
Hierzu ein Beispiel: In einem Experiment der Universität Konstanz in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule der Polizei in Villingen-Schweningen wurden 20 polizeiliche Probanden gebeten, ein Erlebnis aus ihrer Dienstzeit zu schildern, das sie als emotional belastend erlebt hatten (Gruppe 1). 20 weiteren Probanden wurde ein solches Erlebnis eines anderen berichtet und die Probanden sollten das Ergebnis als selbsterlebt darstellen (Gruppe 2). Eine dritte Gruppe, die über keine Polizeierfahrung verfügte, wurde gebeten, sich ein belastendes Ereignis auszudenken, das einem Polizeibeamten im Dienst widerfahren könnte (vgl. Herbst, Glaubhaftigkeitsdiagnostik von Zeugenaussagen, S. 56). Die Ergebnisse hinsichtlich des Vorkommens der Summe aller Realkennzeichen waren (vgl. Herbst, a.a.O., S. 72):
Gruppe |
Mittelwert |
Minimum |
Maximum |
Median |
1 |
9,90 |
5 |
15 |
10,0 |
2 |
8,95 |
4 |
14 |
9,5 |
3 |
7,90 |
4 |
13 |
7,0 |
Das zeigt, dass die Realkennzeichen in der alltäglichen Gerichtspraxis kaum tauglich sein können, wahre von erlogenen Aussagen zu unterscheiden. Denn es gibt weder einen Schwellenwert an Kennzeichen, noch verlässliche Kennzeichen an sich. Bei geübten Lügnern sollen bestimmte Realkennzeichen (logische Konsistenz, Schilderung von Interaktionen, spontane Verbesserungen der Aussage, Selbstbelastungen) sogar häufiger in erfundenen als in wahren Aussagen vorkommen (vgl. Hommers, in: Greuel/Fabian/Stadler, Psychologie der Zeugenaussage, S. 87 ff.). Der typische Lügner in der forensischen Praxis erzählt – im Gegensatz zu Gruppe 3 des o.g. Experiments – keine vollständig erfundene Geschichte, sondern nimmt in der Regel real erlebte Vorgänge (zu einer anderen Zeit und/oder mit anderen Personen) und fügt sie zu einer neuen Geschichte zusammen, so dass seine Schilderung am ehesten mit derjenigen der Gruppe 2 dieses Experiments vergleichbar ist (vgl. Lafrenz, Wahrheit und Lüge bei Zeugenaussagen, S. 35).
In einem anderen Experiment von Niehaus (Zur Anwendbarkeit inhaltlicher Glaubhaftigkeitsmerkmale bei Zeugenaussagen unterschiedlichen Wahrheitsgehalts, Diss. 2001) sollten Kinder im Grundschulalter einen selbst erlebten Verkehrsunfall, einen nur nacherzählten Verkehrsunfall und einen frei erfundenen Verkehrsunfall schildern. Die in der Aussageanalyse trainierten Beurteiler erkannten 67,5 % der wahren Aussagen und 77,5 % der frei erfundenen Schilderungen zutreffend. Dieses Ergebnis ist ernüchternd, denn Aussagen von Grundschulkindern gelten in der Aussagepsychologie als „leicht durchschaubar“ (Regber, Glaubhaftigkeit und Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen unter Einbeziehung entwicklungspsychologischer Aspekte, S. 31 m.w.N.). Durch reines Würfeln, also ohne Einsatz irgendeines Beurteilers, geschweige denn eines trainierten Beurteilers, hätte sich jewei...