Die Reform des Versicherungsvertragsrechts (VVG 2008) hat zu einem Paradigmenwechsel geführt, der sich auch und vor allem in der Kraftfahrtversicherung auswirkt. "Herzstück" des reformierten VVG ist der Wegfall des sog. Alles-oder-Nichts-Prinzips bei grober Fahrlässigkeit. Der Versicherungsnehmer erhält auch dann anteiligen Versicherungsschutz, wenn er sich bei Obliegenheitsverletzungen, Gefahrerhöhungen oder Herbeiführung des Versicherungsfalls grob fahrlässig verhalten hat. Zu den wesentlichen Neuerungen des VVG 2008 gehört auch, dass einfache Fahrlässigkeit bei Obliegenheitsverletzungen und Gefahrerhöhungen nicht mehr sanktioniert wird. Obliegenheitsverletzungen und Gefahrerhöhungen sind nur dann relevant, wenn sich diese auf den Eintritt des Versicherungsfalls ausgewirkt haben. Dieses Kausalitätserfordernis entfällt lediglich bei Arglist.
Die Kraftfahrtversicherung mit ihren unterschiedlichen Sparten (Haftpflichtversicherung, Vollkaskoversicherung, Teilkaskoversicherung, Fahrerschutzversicherung und Unfallversicherung) ist Gegenstand der meisten Deckungsprozesse. Die von einigen Versicherern bei Einführung des VVG 2008 geäußerte Befürchtung, dass die Quotenbildung bei grober Fahrlässigkeit zu einem höheren Prozessaufkommen führen werde, hat sich nicht bestätigt. Für viele Versicherungsnehmer war nicht nachvollziehbar, dass sie bei grober Fahrlässigkeit keine Leistung erhalten sollten, insbesondere dann, wenn sich die grobe Fahrlässigkeit bei Obliegenheitsverletzung oder Gefahrerhöhung gar nicht auf dem Eintritt des Versicherungsfalls ausgewirkt hatte.
Der in § 215 VVG normierte Gerichtsstand des Versicherungsnehmers führt dazu, dass nunmehr alle Gerichte sich mit dem Versicherungsvertragsrecht zu befassen haben. Die verschiedenen in den AKB enthaltenen Versicherungsprodukte (Haftpflichtversicherung, Kaskoversicherung, Schutzbriefversicherung, Unfallversicherung und Fahrerschutzversicherung) werden zwar häufig in einer einzigen Police zusammengefasst, es handelt sich jedoch regelmäßig um eine gebündelte Versicherung mit unterschiedlichen Versicherungsverträgen und unterschiedlicher Zielrichtung.
Hinweis:
Für jeden Versicherungsvertrag ist somit gesondert zu prüfen, ob und in welchem Umfang Versicherungsschutz besteht. Die Obliegenheitsverletzung in einer Sparte wirkt sich nicht auf eine andere Sparte aus.
Bei nahezu jedem Verkehrsunfall muss der beauftragte Rechtsanwalt prüfen, ob und inwieweit es sinnvoll ist, die Vollkasko- oder die Teilkaskoversicherung in Anspruch zu nehmen. Eine sachkundige Beratung setzt die Kenntnisse über das Quotenvorrecht voraus. Bei selbstverschuldeten Unfällen ist daran zu denken, dass Glasschäden und Brandschäden unabhängig von der Verschuldensfrage im Rahmen der Teilkaskoversicherung reguliert werden. Die seit etwa 15 Jahren angebotene Fahrerschutzversicherung gewinnt an Bedeutung, da in dieser Sparte der Halter/Fahrer bei Personenschäden die gleichen Schadensersatzansprüche gegenüber seinem eigenen Haftpflichtversicherer geltend machen kann wie die Fahrzeuginsassen. Zu den Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts gehört es daher auch, die Versicherungsunterlagen seines Mandanten zu überprüfen, ob eine solche Fahrerschutzversicherung abgeschlossen oder wegen mangelhafter Beratung durch den Versicherungsagenten nicht abgeschlossen worden ist.
Die anwaltliche Tätigkeit gegenüber dem eigenen Versicherer des Mandanten betrifft die Geltendmachung von vertraglichen Ansprüchen, so dass ein Rechtsschutzversicherer erst dann eintrittspflichtig wird, wenn der Versicherer sich in Verzug befindet oder zu Unrecht seine Leistung verweigert hat.