Nach § 230 Abs. 2 StPO muss (!) das Gericht gegen den (unentschuldigt) ausgebliebenen Angeklagten Zwangsmittel ergreifen (vgl. dazu V.; s. aber auch VI.). Das gilt nicht, wenn das Ausbleiben des Angeklagten genügend entschuldigt ist. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob sich der Angeklagte entschuldigt hat (BGHSt 17, 391, 396; BGH StV 1982, 153; OLG Köln StraFo 2008, 29).
Hinweis:
Die dazu vorliegende Rechtsprechung zu § 329 StPO für das Ausbleiben in der Berufungshauptverhandlung gilt entsprechend (vgl. dazu Burhoff, HV, Rn 792 ff.).
1. Ausreichend entschuldigt?
Ausreichend entschuldigt ist das Ausbleiben, wenn dem Angeklagten bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalls daraus billigerweise kein Vorwurf gemacht werden kann (z.B. BVerfG NJW 2007, 2318; OLG Brandenburg NJW 1998, 842; OLG Karlsruhe NStZ-RR 20120, 287; OLG Köln StraFo 2010, 73; 2011, 54; KK-Gmel, § 230 Rn 11). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hat das Gericht von Amts wegen im Freibeweisverfahren festzustellen.
Das Verschulden des Angeklagten hinsichtlich des Ausbleibens muss aber zweifelsfrei feststehen (OLG Hamm, Beschl. v. 15.2.2007 – 3 Ss 573/06). Insgesamt gelten zum Ausbleiben und auch zur Nachforschungspflicht des Gerichts betreffend die Hauptverhandlung 1. Instanz die Anforderungen zu § 329 StPO für das Ausbleiben in der Berufungshauptverhandlung entsprechend (Meyer-Goßner/Schmitt, § 230 Rn 16; aus der Rechtsprechung vgl. nur BayObLG StV 2001, 338; NStZ-RR 2003, 87; KG DAR 2011, 146; OLG Bamberg StRR 2008, 305 [Vorlage eines ärztlichen Attests]; StRR 2013, 386; OLG Frankfurt, Beschl. v. 2.11.2015 – 1 Ss 322/15; OLG Hamburg, Beschl. v. 7.1.2016 – 2 Rev 87/15; OLG Hamm StraFo 1998, 233; OLG Karlsruhe StraFo 1999, 25; OLG Köln NStZ-RR 2009, 112; OLG München NJW 2008, 3797 [zwei unterschiedliche Ladungen an einen geistig Behinderten]; StV 2018, 151 [Ls.]; StraFo 2014, 79 [privatärztliches Attest]; OLG Nürnberg NJW 2009, 1761; OLG Schleswig zfs 2006, 53 [OWi-Verfahren]; OLG Zweibrücken zfs 2006, 233; Beschl. v. 19.1.2018 – 1 OWi 2 SsBs 84/17 [OWi-Verfahren]; LG Bielefeld VA 2016, 86).
Hinweis:
Verbleiben trotz schlüssigem Vortrag des Angeklagten bei Gericht Zweifel am Entschuldigtsein, dürfen sich diese nicht zum Nachteil des Angeklagten auswirken (h.M.; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 StPO Rn 22 m.w.N.).
2. Rechtsprechungsbeispiele
Hinzuweisen ist auf folgende Rechtsprechungsbeispiele (entnommen Burhoff, HV, Rn 442 f.; vgl. dort auch wegen weiterer Beispiele):
Beispiele für eine genügende Entschuldigung:
- ggf. wenn der Angeklagte nach einem vor der Hauptverhandlung gestellten Aussetzungsantrag nicht erscheint (BGHSt 24, 143; s. oben III.);
- ggf. falsche Auskünfte des Verteidigers (KG DAR 2012, 395 m. Anm. Burhoff VRR 2012, 275 für das Bußgeldverfahren; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 113; NStZ-RR 2010, 245 [Mitteilung werde wegen einer Erkrankung des Verteidigers aufgehoben]; OLG Karlsruhe AnwBl. 1977, 224 [falsche Uhrzeit für Verhandlungsbeginn]; OLG Köln NStZ-RR 1997, 208 [Auskunft des Büros des Verteidigers, der Angeklagte brauche nicht zu erscheinen]); LG Frankfurt/O. VRR 2013, 475 [vorrangige Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch]), nicht aber, wenn der Angeklagte bereits eine anderslautende Mitteilung des Gerichts erhalten hat (OLG Koblenz VRS 44, 290; ähnl. BayObLG NStZ-RR 2003, 85; vgl. auch noch LG Potsdam NStZ-RR 2013, 317 [Ls.]; AG Bamberg, Beschl. v. 7.9.2017 – 23 OWi 2311 Js 9332/17 [Terminsverlegung]);
- ggf. die irrtümliche Annahme, der Verteidiger sei zur Vertretung berechtigt (BayObLG NJW 1956, 838; DAR 1978, 211 [Rüth]);
- i.d.R. eine Kraftfahrzeugpanne (OLG Hamm VRS 7, 31; DAR 1999, 277 [Ls.]; OLG Karlsruhe NJW 1973, 1515);
- Krankheit, wenn sie nach Art und Auswirkungen eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unzumutbar macht (OLG Düsseldorf NStZ 1984, 331 [für Abszess in der Mundhöhle]; OLG Hamm StraFo 1998, 233 [für Eiterausbruch am Bein und Gesäß]; OLG Köln StraFo 2010, 73 [paranoide Psychose mit der Gefahr psychophysischer Dekompensation]; OLG München StraFo 2013, 208 [wegen Rückenbeschwerden nicht reisefähig]; OLG Schleswig SchlHA 2004, 240 [Dö/Dr]), auch wenn keine Verhandlungsunfähigkeit besteht (OLG Düsseldorf StV 1987, 9; OLG Köln VRS 72, 442 ff.);
- falsche Mitteilung in der Ladung, wonach der Angeklagte nicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung verpflichtet sei (OLG Hamm NZV 1999, 307);
- keine Kenntnis vom Termin (BVerfG NJW 2007, 2318);
- Ladung eines Ausländers zur Hauptverhandlung in deutscher Sprache (OLG Bremen NStZ 2005, 527; LG Bremen StraFo 2005, 29);
- die Regelung beruflicher und privater Angelegenheiten nur, wenn sie unaufschiebbar und von erheblicher Bedeutung sind (OLG Düsseldorf NJW 1960, 1921 [für wirtschaftliche Verluste]; 1973, 109 [für nicht mehr rückgängig zu machende Urlaubsreise nach Südindien bei Hauptverhandlung in einer Bagatellsache – fahrlässige Körperverletzung]), wobei im Einzelfall jeweils die Bedeutung der zu erledigenden Geschäfte nach Wichtigkeit und Dringlichkeit einerseits und die öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen andererseits abzuwägen sind, w...