Die "Kanzlei" i.S.v. § 27 Abs. 1 BRAO ist der Mittelpunkt der anwaltlichen Berufsausübung. Der Begriff der Kanzlei ist im Gesetz nicht definiert. Berufsrechtlich gilt die "Kanzlei" als die berufliche Niederlassung eines Rechtsanwalts.
Das Gesetz benennt die berufliche Niederlassung eines Rechtsanwalts nicht als Hauptstelle, Hauptkanzlei oder Hauptniederlassung, sondern einfach nur als "Kanzlei". Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass der Gesetzgeber weiterhin von dem Regelfall ausgeht, dass ein Rechtsanwalt nur eine einzige Büroräumlichkeit hat.
Im gegenwärtigen allgemeinen und juristischen Sprachgebrauch wird das Wort "Kanzlei" vornehmlich zur Beschreibung der räumlichen Einheit gebraucht, von der aus ein Rechtsanwalt seinen Beruf ausübt (vgl. z.B. § 27 Abs. 1 BRAO), der den Mittelpunkt seiner Tätigkeit bildet, wo man ihn also während der üblichen Bürokernzeiten grundsätzlich antreffen kann, wenn er nicht berufs- oder erholungsbedingt ortsabwesend ist (Anwaltsgerichtshof Dresden, Beschl. v. 4.11.2004 – AGH 18/03 (II), BRAK-Mitteilungen 2005, 31 ff.).
Der Rechtsanwalt unterhält dort eine Kanzlei, in der er für seine Mandanten, aber auch für Gerichte und Behörden erreichbar und ansprechbar ist (Feuerich/Weyland, § 27 Rn 2; Siegmund, in: Gaier/Wolf/Göcken, § 27 BRAO Rn 21 ff.; Kleine-Cosack, § 27 Rn 1). Er hat dort auch Mitglied der Rechtsanwaltskammer (RAK) zu sein. Man spricht hier sinnvollerweise von einer Hauptstelle oder Hauptniederlassung, wenn es daneben noch Zweigstellen (Zweigniederlassungen) gibt.
Jeder Rechtsanwalt kann in seiner Person nur eine Hauptstelle für seine Kanzlei haben (Ausnahme ist die in § 27 Abs. 2 BRAO normierte "weitere Kanzlei", die aber eine Sonderform, nämlich eine andere Kanzlei, ist. Dazu näher unter II. 3). Eine Berufsausübungsgemeinschaft kann aber natürlich auch mehrere Hauptstellen unterhalten, wenn einzelne ihr angehörende Berufsträger jeweils in anderen Räumlichkeiten für ihre Mandanten, für Gerichte und Behörden, erreichbar und ansprechbar sind.
Bezeichnen mehrere, gleichgültig auf welcher rechtlichen Grundlage zu gemeinsamer Berufsausübung zusammengeschlossene Rechtsanwälte mehrere Orte als "Kanzleistandorte", erwartet der Rechtsuchende an jedem dieser Orte eine organisatorisch selbstständige Betriebseinheit, die von mindestens einem Rechtsanwalt dergestalt geführt wird, dass – jedenfalls von außen betrachtet – dieser Ort der Mittelpunkt seiner beruflichen Tätigkeit ist und der Rechtsanwalt dort zu angemessenen Zeiten präsent ist (KG, Beschl. v. 14.8.2018 – 5 U 134/17, BRAK-Mitteilungen 2019, 145 [rkr.; die NZB wurde abgelehnt, BGH Beschl. v. 14.3.2019 – I ZR 167/18, K&R 2019, 401 ff.]).
Das Gesetz unterscheidet in §§ 27 Abs. 2 BRAO, 5 BORA zwischen "Kanzlei" und "Zweigstelle", stellt aber seinerseits klar, dass der Rechtsanwalt an beiden Standorten die im Wesentlichen gleichen personellen und organisatorischen Voraussetzungen bereithalten muss. Sowohl Hauptniederlassung als auch Zweigniederlassung bilden zusammen eine Kanzlei im weiteren Sinne.
Der Begriff Kanzlei in § 27 Abs. 1 BRAO, wonach der Rechtsanwalt verpflichtet ist, in dem Bezirk der RAK, in der er Mitglied ist, eine Kanzlei zu errichten und zu unterhalten, meint bei Vorliegen von Zweigniederlassungen die Hauptniederlassung.