Im prognostizierten Zeitalter von Legal Tech sind auch virtuelle Kanzleien (mitunter auch "Telekanzleien" genannt, so etwa Prütting, AnwBl 2011, 46, 47) in vieler Munde. Einher geht mit dieser Argumentation häufig die Forderung, den Kanzleibegriff aus § 27 Abs. 1 BRAO weiter aufzuweichen oder gar fallen zu lassen. Man hört in solchen Fällen, dass die BRAO nicht mehr up to date und noch das letzte Relikt des abgeschafften Lokalisationsgebots aus § 28 BRAO a.F. sei (so etwa von Möllendorf in: Kanzleipflicht und Digitalisierung: Das Kanzleischild hat ausgedient, zu finden unter https://www.lto.de/recht/juristen/b/digitalisierung-kanzlei-kanzleipflicht-liberalisierung-anwaltsberuf/ ).
Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Von einem letzten Relikt vergangener Zeiten zu sprechen, verkennt den Umstand, dass der Gesetzgeber in § 27 Abs. 1 BRAO bewusst die Kanzleipflicht nicht abgeschafft hat.
Die heutige Praxiswirklichkeit bedeutet zwar nicht mehr, dass ein Rechtsanwalt nur noch an seinem Schreibtisch vor einer Wand von Büchern sitzt und dort seinen Mandanten empfängt. Natürlich haben längst Online-Rechtsberatungen ihren Weg in die anwaltliche Tätigkeit gefunden. Mitunter wird der Rechtsanwalt sogar schon durch Maschinen im Rahmen von Legal Tech abgelöst. Doch spätestens dann, wenn sich dem Mandanten die Frage stellt, wer eigentlich für die falsche anwaltliche Beratung haftet, bedarf es eine Person, die zuständig ist. Es ist ein Irrglaube zu meinen, in einer digitalisierten Welt bedürfe es keiner persönlichen Erreichbarkeiten von Verantwortlichen. Das Gegenteil ist der Fall. Je weiter die Digitalisierungsmöglichkeiten voranschreiten, umso wichtiger wird es werden, klare persönliche Verantwortlichkeiten ausmachen zu können. Ein Verantwortlicher, der nach dem Impressum auf den Bahamas sitzt, wird dem einzelnen Rechtssuchenden jedenfalls keine Verlässlichkeit bieten können. Ein Rechtsanwalt, dessen fester Anschriftenbezugspunkt nicht bekannt ist oder erst durch Abfragen bei Einwohnermeldebehörden ermittelt werden muss, stellt z.B. für rechtswirksame Zustellungen und den Vertrauensschutz der Öffentlichkeit eine Gefahr für die Gewährleistung der Rechtspflege dar. Das Gleiche gilt für Rechtsanwälte, die zwar eine Anschrift angeben, dort eingehende Post jedoch nicht zustellbar ist und der Rechtsanwalt dort auch nicht anzutreffen ist (so Anwaltsgerichtshof Dresden, Beschl. v. 4.11.2004 – AGH 18/03 (II), BRAK-Mitteilungen 2005, 31 ff.) Die allgemeine Internationalisierung und Globalisierung des Wirtschaftsverkehrs und die Tatsache, dass der Rechtsanwalt seinen Geschäften immer häufiger außerhalb seines Kanzleisitzes nachgeht, macht eine ortsfeste Anlaufstelle sogar umso wichtiger und notwendiger.
Das ändert nichts daran, dass Rechtsanwälte auch klassische Hausbesuche ableisten dürfen und sich online, etwa über Skype, mit Mandanten unterhalten dürfen. Sie müssen auch die Bearbeitung ihrer Akten nicht stets in ihren benannten Räumlichkeiten erledigen, sondern können auch im Homeoffice bestimmte Schriftsätze verfassen oder auf Bahnfahrten ihr Notebook mitnehmen. Doch es bedarf eines festen Bezugspunkts, über den der Rechtsanwalt gewöhnlich erreichbar ist.
Wenn der Rechtsanwalt von Gerichten und Behörden etwa Akteneinsicht für z.B. zwei Tage in eine Akte erhält, muss auch gewährleistet werden, dass sie rechtzeitig wieder zurückgeschickt werden kann. Wenn sie aber zunächst erst noch von einem Bürodienstleistungszentrum weiter an die Kanzlei des Rechtsanwalts geschickt werden muss, wird die Rechtspflege erschwert oder u.U. sogar gefährdet. Akten, die verloren gehen oder verzögert zugestellt werden und damit behördliche bzw. gerichtliche Entscheidungen verzögern, stehen solchen Konstruktionen entgegen. Eine geordnete und effektive Rechtspflege wird gehindert.
Daran ändert auch die Möglichkeit des elektronischen Rechtsverkehrs (ERV), etwa in Form der elektronischen behördlichen Akte (beA) nichts. Der elektronische Rechtsverkehr erleichtert dem Rechtsanwalt zwar den Austausch von Dokumenten über weitere Entfernungen hinweg, aber ändert spätestens an der Übermittlung von Originalunterlagen und Beweisstücken, Asservaten und Gerichtsakten nichts. Auch beeinflusst die Entwicklung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) nicht das Verkehrsverständnis. Wenn dessen Entwicklung und Existenz dem Durchschnittsverbraucher überhaupt zur Kenntnis gelangt ist, dann am ehesten aufgrund der mehrmonatigen Abschaltung wegen Sicherheitsproblemen (so das KG a.a.O.). Unabhängig davon wird die Kommunikation mit dem Mandanten nie ausschließlich elektronisch möglich sein. Mandanten reichen etwa Beweisstücke ein. Andere sind nicht in der Lage, elektronisch zu kommunizieren. Auch lassen sich viele gerade schwierigere Mandantengespräche nur optimal im persönlichen Gespräch während einer gemeinsamen Sprechstunde am gleichen Ort, in einer die Vertraulichkeit wahrenden Räumlichkeit, führen. Eine seriöse Besprechung zwischen Anwalt und Mandant kann in einer Vi...