Die Problematik des "falschen Überholens" i.S.d. § 315c Abs. 1 Nr. 2b) StGB hat in einem vom OLG Oldenburg entschiedenen Fall eine Rolle gespielt (vgl. Beschl. v. 29.10.2018 – 1 Ss 173/18, zfs 2019, 113 = VRR 3/2019, 16 = StRR 6/2019, 20). Das LG hatte den Angeklagten wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung gem. § 315c Abs. 1 Nr. 2b), Abs. 3 Nr. 1 StGB verurteilt. Dabei war es von folgenden Feststellungen ausgegangen. Am Tattag brach der Angeklagte morgens mit seinem Pkw von zu Hause auf, um zu seinem Arbeitsplatz am W.-Weg auf kürzester Strecke zu gelangen. Sein Fahrzeug war dabei auf dem Grundstückstreifen zwischen Wohnhaus und dem gepflasterten Gehweg der stadtauswärts führenden O.-Straße geparkt. Da auf der O.-Straße – wie an jedem Wochentag außerhalb der Schulferien – der Verkehr aufgrund seiner erhöhten Dichte ins Stocken geraten war, entschied sich der Angeklagte, diesen zu umgehen und die Entfernung bis zur nächsten Querstraße, der B.-Straße, in die er zum Wenden ohnehin einfahren wollte, auf dem Geh- und Radweg zurückzulegen. Die bis zur B.-Straße zurückzulegende Strecke von 15 m durchfuhr der Angeklagte mit einer Geschwindigkeit von etwa 10-15 km/h. Als er von dem Geh- und Radweg auf die B.-Straße fuhr, befand sich der Zeuge P im Abbiegevorgang von der O.-Straße auf die besagte Querstraße. Der Angeklagte wollte sich noch vor den Zeugen setzen und fuhr daher – zügiger als der Zeuge P. – weiter auf die Straße ein. Dieses Verhalten zwang den Zeugen dazu, abrupt abzubremsen und dem Angeklagten und seinem Pkw auszuweichen, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Das Fahrzeug des Zeugen P. kam in einem Abstand zum Fahrzeug des Angeklagten von wenigen Millimetern bis zu maximal 3 cm zum Stehen. Im Falle einer Kollision wäre am Fahrzeug des Zeugen P ein Schaden von etwa 2.000-2.500 EUR entstanden. Die Revision des Angeklagten hatte teilweise Erfolg.
Nach Auffassung des OLG Oldenburg (a.a.O.) erfüllt das Verkehrsverhalten des Angeklagten nicht die allein in Betracht kommende Tatbestandsalternative des falschen Überholens oder des sonstigen Falschfahrens bei Überholvorgängen (§ 315c Abs. 1 Nr. 2b) StGB. Allerdings sei – so das OLG – die Reichweite des Tatbestands des § 315c Abs. 1 Nr. 2b) StGB nicht auf Überholvorgänge i.S.d. StVO – den tatsächlichen Vorgang des Vorbeifahrens von hinten an Fahrzeugen anderer Verkehrsteilnehmer, die sich auf derselben Fahrbahn in dieselbe Richtung bewegen oder verkehrsbedingt halten – beschränkt. Ein Überholen sei auch gegeben bei einem Vorbeifahren über Seiten- oder Grünstreifen, über Ein- oder Ausfädelspuren oder über lediglich durch Bordsteine oder einen befahrbaren Grünstreifen von der Fahrbahn abgesetzte Rad- oder Gehwege (vgl. OLG Hamm VRS 32, 449). Dagegen fehle es an einem Überholvorgang etwa bei einem Vorbeifahren unter Benutzung einer von der Fahrbahn baulich getrennten Anliegerstraße oder mittels Durchfahren einer Parkplatz- oder Tank- und Rastanlage auf der Bundesautobahn (vgl. zu allem BGHSt 61, 249 m.w.N.). Der Angeklagte habe jedoch sein Fahrmanöver nicht auf der Fahrbahn begonnen. Vielmehr sei er mit seinem zunächst auf einem Streifen vor dem Haus geparkten Pkw unmittelbar auf dem Gehweg losgefahren. Ob ein Überholen nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b) StGB aber auch dann vorliege, wenn das Vorbeifahren nicht auf der von dem anderen Fahrzeug benutzten Fahrbahn seinen Ausgang nimmt, habe der BGH bislang nicht entschieden, vielmehr ausdrücklich offengelassen (vgl. zuletzt BGH, a.a.O.). Die Frage hat das OLG verneint und die dazu von Kubiciel in seiner Anmerkung zur Entscheidung des BGH vertretenen Auffassung (jurisPR-StrafR 23/2016 Anm. 1) abgelehnt. Zwar setze der weite Begriff des Überholens i.S.v. § 315c Abs. 1 Nr. 2b) StGB eine Bewegung auf derselben Fahrbahn nicht voraus. Andererseits könne bei Bewegungsvorgängen auf Flächen außerhalb der Fahrbahn bzw. auf verschiedenen Fahrbahnen auch nicht jedes "Vorbeifahren eines Verkehrsteilnehmers von hinten an einem anderen, der sich in derselben Richtung bewegt," unter den strafrechtlichen Überholbegriff subsumiert werden Ein Überholen liege daher z.B. nicht vor, wenn der in eine BAB Einfahrende schneller als der sich auf der Durchgangsfahrbahn bewegende Fahrzeugführer fahre und sich nach dem Einfahrvorgang vor diesen setze. Denn hier sei mangels Beginns des "Überholvorgangs" auf der durchgehenden Fahrbahn der Schwerpunkt nicht dort anzusiedeln.
Hinweis:
Ob tatsächlich kein weiterer Fall des § 315c StGB vorliegt, lässt sich anhand des festgestellten Sachverhalts nicht abschließend beurteilen. Zu denken wäre etwa noch an § 315c Abs. 1 Nr. 2a oder d StGB.
Das OLG hat den Angeklagten jedoch nicht frei gesprochen, sondern ihn wegen einer Ordnungswidrigkeit verurteilt, und zwar wegen eines Verstoßes gegen §§ 2 Abs. 1, 10 S. 1 StVO. Durch das Befahren des kombinierten Geh- und Radwegs an der O.Straße mit einem Pkw habe der Angeklagte vorsätzlich gegen die Vorschriften über die Straßenbenutzung und durch das abschließende Auffahren...