Die zunehmende Bedeutung und der Stellenwert des Europarechts als supranationale Rechtsordnung, die mit den mitgliedschaftlichen Rechtsordnungen eng verflochten ist und in diese im Deutschen Rechtsalltag hineinwirkt, zwingt auch die Anwaltschaft, sich mit dem durch die europäischen Gerichte vermittelten Rechtschutz zu befassen. Deren Aufgaben lassen sich ohne einen vorherigen Blick auf die insoweit einschlägige Rechtsmaterie Europarecht nicht verstehen.
Das Europarecht i.e.S. bildete als sog. Primärrecht zunächst das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Gemeinschaftsrecht genannt – d.h. der Europäischen Gemeinschaft (früher: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM). Die europäischen Gründungsverträge wurden dann u.a. durch den Vertrag über die Europäische Union vom 7.2.1992 (EUV) nebst Änderungen fortgeschrieben. Am 1.12.2009 ist der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten, ABl 2007 Nr. C306/01 v. 17.12.2007. Der bisherige Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ist nunmehr als Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bezeichnet. Das Primärrecht umfasst ferner die europäischen Grundrechte, v.a. nach der Grundrechtscharta (GRCh).
Zum Europarecht i.e.S. zählt ferner das sog. Sekundärrecht, die von den Unionsorganen v.a. nach Art. 288 AEUV erlassenen Rechtsakte, wie Verordnungen (Abs. 2) und Richtlinien (Abs. 3). Im weiteren Sinne zum Europarecht gehört das Recht der zwischenstaatlichen Übereinkommen, wie die Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK – (s. III.) sowie das europäische Fürsorgeabkommen und die Europäische Sozialcharta (ESC).
Bedeutsam ist, dass im Verhältnis zum nationalen Recht jeder Rangstufe, auch hinsichtlich von Verfassungsrecht (bei Verfassungsbeschwerden, die eine unionsrechtlich vollständig determinierte Materie betreffen, sind nicht die Grundrechte des GG als unmittelbarer Prüfungsmaßstab anwendbar. Die Beschwerdeführer können sich jedoch auf die Rechte der GRCh berufen, die vom BVerfG als Kontrollmaßstab für die richtige Anwendung des einschlägigen Unionsrechts herangezogen werden (BVerfG, Beschl. v. 1.12.2020 – 2 BvR 1845/18, NJW 2021, 1518, hierzu Britz, NJW 2021, 1489) ein Anwendungsvorrang des Unionsrecht (sowohl des primären als auch des sekundären Rechts) gilt (s. st. Rspr. des EuGH, Nachweise bei Oppermann/Classen/Nettelsheim, Europarecht, 9. Aufl., § 10 Rn 8).
Aktuell stellte sich die Frage, ob bzw. welche Grenzen das Recht der Mitgliedstaaten dem Grundsatz eines Vorrangs des Unionsrechts setzt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend. Das Gericht sieht sich als berechtigt an, Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen darauf zu überprüfen, ob sie z.B. aufgrund ersichtlicher Kompetenzüberschreitungen erfolgen („Ultra Vires-Kontrolle”) und die Unanwendbarkeit solcher Handlungen für die deutsche Rechtsordnung festzustellen (BVerfG, Beschl. v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06 und nunmehr [zum Ankauf von Staatsanleihen – PSPP-Programm – durch die EZB] v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., NJW 2020, 147. Hinsichtlich der vielfältigen Reaktionen auf das Urt. v. 5.5.2020 s. etwa Callies, NJW 2021, 2845 m.w.N.; ferner die Beiträge im AnwBl 4/2021, S. 214 ff.). Die Kommission als Organ der EU (Art. 17 EUV) hat wegen des vorgenannten Urteils des BVerfG vom 5.5.2020 ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff. AEUV gegen Deutschland eingeleitet, aber inzwischen eingestellt. Zuvor hatte die Bundesregierung nach Angaben der europäischen Behörde erklärt, sie erkenne den Vorrang des EU-Rechts an. Die Rechtmäßigkeit von Handlungen der Unionsorgane dürfe, so die Antwort aus Berlin, nicht von der Prüfung von Verfassungsbeschwerden vor deutschen Gerichten abhängig gemacht werden, sondern könne nur vom EuGH überprüft werden. Ferner habe sich die Regierung verpflichtet, „alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um in Zukunft die Wiederholung einer Ultra-Vires-Feststellung aktiv zu vermeiden” (s. NJW-aktuell 50/2021, S. 7). Der EuGH hat durch Urt. v. 22.2.2022 (C-430/21 (RS), NJW 2022, 2093) den Vorrang des EuGH hinsichtlich der verbindlichen Auslegung von EU-Recht – auch gegenüber den nationalen Verfassungsgerichten – erneut betont.