Wird der Rechtsanwalt mit der außergerichtlichen Vertretung beauftragt, fällt im Regelfall eine Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG an, deren Rahmen von 0,5 bis 2,5 reicht. Nach Abs. 1 der Anm. zu Nr. 2300 VV RVG kann eine Gebühr von mehr als 1,3 nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts umfangreich oder schwierig war.
1. Grundsätze für die Gebührenbestimmung
Bei einer Rahmengebühr – wie die der Nr. 2300 VV RVG – bestimmt der Rechtsanwalt gem. § 14 Abs. 1 S. 1 RVG die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände nach billigem Ermessen. Allerdings besteht bei der Rahmengebühr nach Nr. 2300 VV RVG das Bestimmungsrecht des Rechtsanwalts nicht unbeschränkt. Gemäß § 2 Abs. 2 RVG i.V.m. Abs. 1 der Anm. zu Nr. 2300 VV RVG kann eine Geschäftsgebühr von mehr als 1,3 nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war (BGH zfs 2012, 584 m. Anm. Hansens = AGS 2012, 373 m. Anm. Schons = RVGreport 2012, 375 [Hansens]; BGH zfs 2007,102 m. Anm. Hansens = AGS 2007, 28 m. Amm. Schons = RVGreport 2007, 21 [ders.]). Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, trägt der ersatzpflichtige Dritte die Darlegungs- und Beweislast für die Unbilligkeit der getroffenen Bestimmung gem. § 14 Abs. 1 S. 4 RVG (BGH RVGreport 2011, 145 [Hansens]). Dies gilt auch dann, wenn das Bestimmungsrecht nach Abs. 1 der Anm. zu Nr. 2300 VV RVG eingeschränkt ist.
2. Überschreitung der Schwellengebühr
Ob der Rechtsanwalt eine höhere als die in Abs. 1 der Anm. zu Nr. 2300 VV RVG bestimmte Schwellengebühr von 1,3 berechnen darf, hängt entscheidend davon ab, ob seine Tätigkeit umfangreich oder schwierig war.
Unter dem Umfang der anwaltlichen Tätigkeit versteht man den zeitlichen Aufwand, den der Rechtsanwalt auf die betreffende Sache verwenden muss (Gerold/Schmidt/Mayer, RVG, 25. Aufl. 2021, § 14 Rn 18). Demgegenüber betrifft die Schwierigkeit die inhaltliche anwaltliche Tätigkeit und dabei die Intensität der Arbeit (Gerold/Schmidt/Mayer, a.a.O., § 14 Rn 22). Während der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit sich im Regelfall nach objektiven Maßstäben bestimmen lässt, orientiert sich die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit eher subjektiv. Für die Prüfung, ob die Tätigkeit des Rechtsanwalts im konkreten Fall als schwierig anzusehen ist, sind als Maßstab die Kenntnisse eines durchschnittlichen, nicht spezialisierten Rechtsanwalts anzulegen (NK-Gesamtes Kostenrecht/K. Winkler, 3. Aufl. 2021, § 14 RVG Rn 10; FG Köln RVGreport 2009, 338 [Hansens]; FG München RVGreport 2011, 174 [ders.]; SG Marburg RVGreport 2008, 181 [ders.] = AGS 2008, 451; AnwKomm-RVG/N. Schneider, 9. Aufl. 2021, § 14 Rn 36). Folglich kommt es darauf an, ob es sich allgemein um eine schwierige Materie handelt, die der Rechtsanwalt bewältigen muss. Auf die individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse des betreffenden Rechtsanwalts ist hingegen nicht abzustellen. Deshalb kann die Anwaltstätigkeit auch dann als schwierig i.S.v. Abs. 1 der Anm. zu Nr. 2300 VV RVG angesehen werden, wenn es um die Geschäftsgebühr eines Spezialanwalts auf dem betreffenden Gebiet geht, für den die zu bearbeitende Angelegenheit aufgrund seiner speziellen Kenntnisse und Fähigkeiten weniger schwierig ist als für einen Allgemeinanwalt (s. OLG Jena RVGreport 2005, 145 [Hansens]; Burhoff RVGreport 2005, 361, 363).
Die Anwaltstätigkeit ist im Allgemeinen dann als schwierig einzustufen, wenn der Rechtsanwalt erheblich über dem Durchschnitt liegende Probleme zu lösen hat (Gerold/Schmidt/Mayer, a.a.O., § 14 Rn 16). Sie ist dann schwierig, wenn erhebliche, im Normalfall nicht auftretende Fragestellungen zu bearbeiten sind. Dabei ist es ohne Belang, ob es sich um rechtliche Probleme handelt, oder ob die Schwierigkeiten auf tatsächlichem oder juristischem Gebiet liegen oder ob es sich um nicht juristische Umstände wie etwa technische Fragestellungen handelt (AnwKomm-RVG/N. Schneider, a.a.O. § 14 Rn 37).
Der BGH hatte sich kürzlich in seinem Urt. v. 10.5.2022 – VI ZR 156/20 (zfs 2022, 524 m. Anm. Hansens = MDR 2022, 917) mit der Bestimmung einer Geschäftsgebühr für die außergerichtliche Tätigkeit eines Rechtsanwalts im Zusammenhang mit einem sog. Dieselfall befasst.
3. Der Fall des BGH
Der Kläger hatte vor dem LG Stuttgart gegen die beklagte Volkswagen AG Ansprüche im Zusammenhang mit dem sog. VW-Dieselskandal geltend gemacht und vorgetragen, er sei von der Beklagten durch den Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasrückführung sittenwidrig geschädigt worden. Er hat vor dem LG Stuttgart – soweit hier von Interesse – beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihn von vorgerichtlichen Anwaltskosten, berechnet auf der Grundlage einer 2,0 Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG freizustellen. Das LG Stuttgart hat die Beklagte zur Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten, jedoch berechnet nur auf der Grundlage einer 1,3 Geschäftsgebühr, verurteilt und die Klage i.Ü. abgewiesen.
Die Beklagte hat hiergegen Berufung mit dem Ziel der vollständigen Klageabweisung eingereicht. Mit seiner Anschlussberufung hat sich der Kläger gegen die Absetzung eines Teils der vorgerichtlichen...