Nach § 9 S. 1 HWG n.F. ist eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier beruht (Fernbehandlung), unzulässig. Durch das „Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation” (Digitale-Versorgung-Gesetz) vom 9.12.2019 wurde mit Wirkung zum 19.12.2019 die Regelung des § 9 S. 2 HWG n.F. eingefügt. Hiernach ist § 9 S. 1 HWG n.F. nicht anzuwenden auf die Werbung für Fernbehandlungen, die unter Verwendung von Kommunikationsmedien erfolgen, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist.
In seiner Entscheidung „Werbung für Fernbehandlung” hat sich der BGH mit diesen Vorgaben beschäftigt (Urt. v. 9.12.2021 – I ZR 146/20). Die Beklagte hatte auf ihrer Internetseite mit der Aussage „Erhalte erstmals in Deutschland Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung per App” für die von einer privaten Krankenversicherung angebotenen Leistung eines „digitalen Arztbesuchs” mittels einer App bei in der Schweiz ansässigen Ärzten geworben. Die Wettbewerbszentrale sah hierin einen Verstoß gegen die Vorgaben der eingangs genannten Regelung des § 9 S. 1 HWG n.F. Die Besonderheit lag darin, dass die Regelung des § 9 S. 2 HWG n.F. erst im Laufe des Berufungsverfahren in das Gesetz eingeführt worden ist. Das LG München I (Urt. v. 16.7.2019 – 33 O 4026/18) und das OLG München (Urt. v. 9.7.2020 – 6 U 5180/19) hatten der Wettbewerbszentrale Recht gegeben. Der BGH hat diese Sichtweise bestätigt. Er hat zunächst festgestellt, dass es sich bei § 9 HWG um eine Marktverhaltensregelung i.S.d. § 3a UWG handelt. Er hat sodann ausgeführt, dass eine eigene Wahrnehmung i.S.d. § 9 S. 1 HWG n.F. voraussetzt, dass der Arzt den Patienten nicht nur sehen und hören, sondern auch z.B. durch Abtasten oder Abklopfen untersuchen kann; dies erfordere die gleichzeitige physische Präsenz von Arzt und Patient und sei im Rahmen einer Videosprechstunde nicht möglich. Im Hinblick auf die neue Ausnahmeregelung des § 9 S. 2 HWG n.F. hat der Senat ausgeführt, dass zu Kommunikationsmedien i.S.d. Norm auch Apps gehören. Eine Werbung für Fernbehandlung sei nach der Ausnahmenorm jedoch nur dann zulässig, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt nicht erforderlich sei. Der Begriff der „bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards” sei unter Rückgriff auf die Regelung des § 630a Abs. 2 BGB und die dazu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze auszulegen. Solche Standards könnten sich im Laufe der Zeit entwickeln und sich ferner z.B. aus Leitlinien medizinscher Fachgesellschaften ergeben. Es sei vorliegend jedoch nicht festgestellt worden, dass eine umfassende Fernbehandlung, wie sie in der beanstandeten Werbung beschrieben sei, dem zum Zeitpunkt der Behandlung „bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standard” entspreche.
Der Sichtweise des BGH hat sich das OLG Köln (Urt. v. 10.6.2022 – 6 U 204/21) kürzlich angeschlossen. In dem diesem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalt hatte eine Versandapotheke auf ihrer Internetseite für ein Onlineportal eines Dritten geworben, mit dem sie eine Kooperation eingegangen war. Auf der Seite dieses Onlineportals hatten Verbraucher die Möglichkeit, eine Indikation zu wählen und nach Beantwortung eines Onlinefragebogens sowie dessen anschließender Auswertung durch die Ärzte des Onlineportals ein sog. Privatrezept ausgestellt zu erhalten, unter dessen Verwendung sie auf der Internetseite der Beklagten in deren Onlineshop das im Rezept genannte Medikament erwerben konnten. Die Klägerin des Verfahrens hatte u.a. beantragt, es der Beklagten zu untersagen, „für eine medizinische Fernbehandlung zu werben oder werben zu lassen, sofern sich die Fernbehandlung im Ausfüllen eines Fragebogens erschöpft”. Das LG Köln hatte diesem Antrag stattgegeben (Urt. v. 19.10.2021 – 31 O 20/21), das OLG Köln hat die dagegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Das Gericht führte u.a. aus, dass die Einreichung und Auswertung von Online-Fragebögen nicht den „bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards” i.S.d. § 630a Abs. 2 BGB entspräche.
ZAP F., S. 971–988
Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für IT-Recht Dr. Harald Schneider, Siegburg und Rechtsanwalt Guido Vierkötter, LL.M. (Gewerblicher Rechtsschutz), Neunkirchen-Seelscheid