a) Allgemeines
Liegen die Voraussetzungen des neuen § 141 Abs. 3 S. 4 StPO vor, ist das Gericht, bei dem die Vernehmung durchzuführen ist, von Amts wegen verpflichtet, dem Beschuldigten einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Die Verpflichtung besteht unabhängig von den Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 und Abs. 2 StPO.
Hinweis:
Das Gericht hat hinsichtlich der Bestellung kein Ermessen. Das folgt aus dem Wortlaut des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO. Danach "bestellt" das Gericht einen Verteidiger.
Voraussetzung ist aber – ebenso wie bei der Beiordnung nach §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 5 StPO in den U-Haft-Fällen (vgl. dazu Burhoff, EV, Rn 2863) –, dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat. Hat er einen Verteidiger kann/muss dieser seine Rechte wahrnehmen. Es bedarf dann vom Sinn und Zweck der Neuregelung her nicht der Bestellung eines weiteren Verteidigers.
b) Antrag der Staatsanwaltschaft (Fall 1)
§ 141 Abs. 3 S. 4 StPO regelt in Fall 1 zunächst die Bestellung eines Verteidigers, wenn die Staatsanwaltschaft einen Antrag stellt. Damit wird dem Grunde nach die Regelung des § 141 Abs. 3 S. 3 StPO für das Verfahrensstadium nach Abschluss der Ermittlungen auf den Bereich richterlicher Vernehmungen ausgedehnt/übertragen. Die Stellung des Antrags steht im pflichtgemäßen Ermessen der Staatsanwaltschaft. Insoweit ist die frühere Rechtsprechung zu der Frage anwendbar, wann die Staatsanwaltschaft ggf. verpflichtet ist, (schon im Ermittlungsverfahren) einen Beiordnungsantrag zu stellen (vgl. dazu Burhoff, EV, Rn 3057 ff.), auf die auch die Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 29) teilweise verweist. In all den Fällen, in denen früher eine Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Antragstellung angenommen worden ist, ist diese Pflicht jetzt erst recht zu bejahen. Das Ermessen der Staatsanwaltschaft ist in diesen Fällen auf Null reduziert (vgl. z.B. BGHSt 46, 93).
Stellt die Staatsanwaltschaft einen Antrag, muss der Richter/das Gericht, bei dem die richterliche Vernehmung stattfindet, dem Antrag entsprechen (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 29). Es gelten insoweit die bisher schon geltenden Regeln für die Pflicht zur Bestellung bei Antragstellung durch die Staatsanwaltschaft (vgl. dazu Meyer-Goßner/Schmitt, § 141 Rn 5b).
c) Richterliche Vernehmungen (Fall 2)
§ 141 Abs. 3 S. 4 StPO gebietet in Fall 2 die Bestellung eines Verteidigers, "wenn die Mitwirkung eines Verteidigers aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint". Liegen diese Voraussetzungen vor, ist die Bestellung obligatorisch und unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 und Abs. 2 StPO.
Die Bestellung und die Mitwirkung eines Verteidigers muss "aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten " sein. Dass die Bestellung/Mitwirkung des Verteidigers nur "erforderlich" ist, reicht also nicht aus. Geboten dürfte die Mitwirkung eines Verteidigers insbesondere (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 28; auch Schlothauer StV 2017, 557 f., Burhoff, StPO 2017, Rn 122) in den Fällen sein, in denen auch in der Vergangenheit schon eine Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren als notwendig angesehen worden ist (vgl. Burhoff, EV, Rn 3056 ff.), oder wenn durch die Beweiserhebung dem Verlust erheblicher Entlastungsbeweise vorgebeugt werden soll (§ 166 Abs. 1 StPO; Schlothauer StV 2017, 557, 558).
Ob die Bedeutung der Vernehmung die Mitwirkung eines Verteidigers zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten gebietet, ist eine Frage des Einzelfalls, bei der alle Umstände zu würdigen sind. Entscheidend bei der Abwägung ist der Stellenwert der Aussage für die Ermittlungen bzw. für das weitere Verfahren (BT-Drucks 18/11277, S. 29).
Hinweis:
Für die haftrichterliche Beschuldigtenvernehmung nach §§ 115 Abs. 2, 115a Abs. 2 und 128 Abs. 1 S. 2 StPO ist davon auszugehen, dass in diesen Fällen immer die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten ist. Denn es ist immer unmittelbar das Freiheitsrecht des Beschuldigten (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) tangiert, da es bei diesen Vernehmungen immer um die Frage geht, ob gegen den Beschuldigten ein Haftbefehl ergeht bzw. die Haft aufrechterhalten oder der Haftbefehl aufgehoben wird, also um die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG).
Der (Ermittlungs-)Richter ist nicht an die Einschätzung der Staatsanwaltschaft gebunden (BT-Drucks 18/11277, a.a.O.). Wäre das der Fall, würde die Regelung ins Leere laufen. Sie ist vielmehr ein Korrektiv für die Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft keinen Antrag nach § 141 Abs. 3 S. 4 Fall 1 StPO stellt, der Richter/das Gericht jedoch der Auffassung ist, dass die Mitwirkung eines Verteidigers bei der richterlichen Vernehmung geboten ist, z.B. dann, wenn der Richter einer Aussage eine andere/größere Bedeutung für das Verfahren beimisst als die Staatsanwaltschaft. Dann soll der Richter nicht an die Einschätzung der Staatsanwaltschaft gebunden und ggf. gehalten sein, die Vernehmung ohne den nach seiner Meinung erforderlichen Pflichtverteidiger durchzuführen, ...