1. Beweisantragsrecht nach § 109 SGG
Für das sozialgerichtliche Verfahren gilt der Amtsermittlungsgrundsatz, § 103 S. 1 SGG. Nach Satz 2 der Vorschrift besteht hierbei jedoch keine Bindung an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten. Abweichend von dieser fehlenden Bindung an Beweisanträge begründet § 109 Abs. 1 SGG für Versicherte, behinderte Menschen, Versorgungsberechtigte oder Hinterbliebene das antragsabhängige Recht darauf, einen bestimmten Arzt gutachterlich durch das Gericht anzuhören. Allerdings kann die Anhörung davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt, § 109 Abs. 1 S. 2 SGG. Das Gericht kann (Ermessen) von einem Kostenvorschuss absehen, etwa wegen finanziellen Unvermögens der Antragsteller (BSG v. 23.9.1997 – 2 BU 177/97, juris Rn 9). Eine Verpflichtung dazu besteht jedoch nur bei besonderen Fallgestaltungen wie etwa
- zur Klärung besonders schwieriger Kausalitätsfragen im Bereich des Unfallversicherungsrechts,
- wenn kontrovers beurteilte medizinische Fragestellungen bestehen oder
- der nach § 109 SGG benannte Arzt auf seinem Fachgebiet eine besondere wissenschaftliche Reputation genießt oder über neue Untersuchungsmethoden verfügt, so BSG, a.a.O.
Für das Gutachten nach § 109 SGG ist die Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht möglich, § 73a Abs. 3 SGG. Jedenfalls ist aber das Gericht gehalten, für den Kostenvorschuss auf Antrag Ratenzahlung zuzubilligen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt (künftig: M-L/K/L/S), SGG, 13. Aufl., § 109 Rn 13).
Die endgültige Kostentragung erfolgt auf – nicht befristeten – Antrag durch Beschluss, wobei das Gericht insoweit eine Ermessensentscheidung zu treffen hat, bei der zu berücksichtigen ist, ob das Gutachten die Sachaufklärung wesentlich gefördert hat, was auch dann der Fall sein kann, wenn das Gutachten für die Antragsteller ungünstig ausgefallen ist (s. näher Keller in M-L/K/L/S, § 109 Rn 16a m.w.N.). Häufig wird eine Antragstellung sinnvoll sein. Gegen Beschlüsse des SG ist Beschwerde möglich (§ 172 SGG), nicht aber bei Entscheidungen des LSG (§ 177 SGG). Zum Umfang der Kostenerstattung s. auch LSG Halle v. 23.11.2020 – L 7 SB 40/20 B, wonach u.a. ein Anspruch auf volle Kostenerstattung alle mit der Gutachtenerstattung verbundenen Kosten erfasst, wie Fahrtkosten und ggf. Übernachtungskosten. Zu der Entscheidung s. Reyels, jurisPR-SozR 14/2021 Anm. 4.
Hinweise:
- § 109 SGG stellt sich als Sonderregelung für das Recht der Beweiserhebung durch Sachverständige dar. Die Vorschrift zielt auf die Gleichbehandlung der Beteiligten vor Gericht bei der Beschaffung von Beweismitteln. Im Interesse der „Waffengleichheit” der betroffenen Rechtsuchenden mit ihren behördlichen Verfahrensgegnern schafft § 109 SGG einen gewissen Ausgleich dafür, dass Leistungsträger durch die institutionelle Möglichkeit zur Sachaufklärung auf eigene bzw. beauftragte Sachverständige zurückgreifen und somit i.d.R. über einen „Beweisvorsprung” verfügen (s. etwa BSG v. 20.4.2010 – B 1-3 KR 22/08 R, ASR 2011, 30, Rn 15 m.w.N.). Die Vorschrift hat in der anwaltlichen Praxis große Bedeutung, weil sie es durch eine weitere Beweisaufnahme ermöglichen kann, eine bisher für die Kläger ungünstige Prozesslage zu beeinflussen.
- Rechtsprechung des BSG zu einer verfahrensfehlerhaften Anwendung bzw. Nichtanwendung des § 109 SGG wird man vergeblich suchen, da § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG eine auf Verfahrensmängel gestützte Revision – und damit auch eine damit begründetet Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160a SGG –, die eine Verletzung des § 109 SGG rügt, ausdrücklich ausschließt. Diese Regelung gilt uneingeschränkt für jede fehlerhafte Anwendung des § 109 SGG auch dann, wenn ein entsprechender Antrag offensichtlich fehlerhaft abgelehnt wurde (s. hierzu, auch hinsichtlich des weiteren Umfangs des Ausschlusses, Leitherer in M-L/K/L/S, SGG, 13. Aufl. § 160 Rn 17b m.w.N.).
Das LSG Baden-Württemberg hat durch ausführlich begründetes, rechtskräftiges Urt. v. 11.12.2020 – L 4 R 1223/20, ASR 2021, 78, entschieden, dass bei einem Antrag nach § 109 Abs. 1 SGG kein geeigneter Nachweis dazu vorzulegen ist, wonach der genannte Arzt zur Erstellung des Gutachtens innerhalb einer bestimmten Frist – im vorliegenden Fall: drei Monate – bereit sei, dies finde im Gesetz keine Stütze (ebenso Keller in M-L/K/L/S, SGG, § 109 Rn 11, a.A. aber Roller in HK-SGG, 6. Aufl., § 109 Rn 10). Ferner enthält die Entscheidung eine Auflistung weiterer Verfahrensfehler, auf die eine Berufung gestützt werden kann.
Vorliegend hatte das SG der Klägerin, die Erwerbsminderungsrente begehrte, durch Verfügung v. 2.12.2019 mitgeteilt, nach dem Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme werde die Rücknahme der Klage angeregt. Für den Fall eines Antrags auf Begutachtung nach § 109 SGG wurde eine Frist gesetzt, in der u.a. auch ein „geeigneter Nachweis” (schriftliche Erklärung des Gutachters, Mitteilung des Ergebnisses einer telefonischen Anfrage bei dem Gutachter) des benannten Arztes...