10.1 Geipel/Renzikowski, Verteidigung bei Sexualdelikten, 1. Aufl. 2022, C.F. Müller; 395 S., 54 EUR
Die spezielle Kombination von gesetzgeberischem Aktionismus, mangelnder Normqualität, sozialer Ächtung der Beschuldigten sowie der erheblichen Quote belastender Falschaussagen macht die Verteidigung in Sexualstrafverfahren besonders anspruchsvoll. Obwohl das Thema oft im Fokus der Strafverteidigung steht und in Gesetzgebung und Rechtsprechung in den letzten Jahren Einiges passiert ist, war einschlägige Literatur zum Thema bislang „Mangelware”. Diese Lücke haben Geipel/Renzikowski mit dieser Neuerscheinung nun geschlossen.
Der große Vorteil des Handbuchs vorab: Es versucht erst gar nicht, das Sexualstrafrecht in allen Einzelheiten zu beschreiben, sondern konzentriert sich auf zwei entscheidende Bereiche: die Verteidigung bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen (Geipel) sowie die Erläuterung/Darstellung der wesentlichen materiellen Tatbestände (Renzikowski); und dies alles auf übersichtlichen 395 Seiten.
Im ersten Teil beschreibt Geipel ebenso detailliert wie nachvollziehbar, wie die Strafjustiz mit der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation in Deutschland verfährt und warum diese Praxis kritisch zu beleuchten ist. Dies erstreckt sich von der Frage, wie jeweils mit dem Aussagematerial der Zeugen an sich umzugehen ist, z.B. beim Abrücken von früheren Vorwürfen oder bei der teilweisen Unrichtigkeit der Aussage, über die Frage, wann ein Sachverständigengutachten einzuholen ist, bis zur Frage, welche erfolgversprechenden Einwände gegen ein Sachverständigengutachten vorgebracht werden können. Geipels überzeugende Ausführungen schließen mit dem Kapitel Freispruchverteidigung. Im zweiten Teil beleuchtet Renzikowski sämtliche wesentlichen Tatbestände in der von ihm bekannt perfekten Manier. Angefangen beim bis heute umstrittenen Tatbestand Sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung (§ 177 StGB) über die kaum bekannten Vorschriften zum Missbrauch institutioneller Abhängigkeit (§§ 174a, 174b StGB) und die Prostitutionsdelikte (§§ 180a ff., 232a StGB) bis zu den Jugendschutzdelikten (insb. die neuen §§ 176 ff. StGB Sexueller Missbrauch von Kindern) und schließlich zur sexuellen Belästigung (§§ 184i ff. StGB).
Beide Autoren beleuchten die jeweiligen Themen durchgehend mit der notwendigen wissenschaftlichen Tiefe. So sind die Anzahl und die Qualität der Fußnoten beeindruckend. Wichtiger ist aber, dass die Auseinandersetzung mit der Thematik immer aus der Sicht der Strafverteidigung stattfindet. Daher ist der Inhalt des Werks auch fast durchgängig „schriftsatztauglich”. Das Buch eignet sich sowohl zur durchgehenden Lektüre, als auch zur auszugsweisen Betrachtung einzelner Bereiche.
Fazit: Ob für Einsteiger in das Strafrechtsmandat oder für die fortgeschrittene Verteidigung: Dieses Buch sollte jeder Strafverteidiger gelesen haben, der Mandanten gegen den Vorwurf von Sexualdelikten verteidigt.
Staatsanwalt Martin Reiter, Saarbrücken