1. „Videokonferenz” und gesetzlicher Richter
Die Informationstechnik gewinnt zunehmend auch in gerichtlichen Verfahren an Bedeutung. Das Prozessrecht räumt die Möglichkeit ein, über sog. Videokonferenzen Verhandlungen durchzuführen.
Im finanzgerichtlichen Prozess kann nach § 91a Abs. 1 S. 1 FGO das Gericht den Beteiligten, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird dann gem. § 91a Abs. 1 S. 2 FGO zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen.
Die „Videoübertragungstechnik” soll auf der Grundlage dieser Vorschrift „ohne Verlust an rechtsstaatlicher Qualität” genutzt werden (BT-Drucks 17/1224, S. 10). Um einem derartigen Verlust entgegenzuwirken, muss es die gem. § 91a Abs. 1 S. 2 FGO vorgesehene Übertragung der „Verhandlung” in Bild und Ton an den in § 91a Abs. 1 S. 1 FGO genannten anderen Ort ermöglichen, sodass die dort anwesenden Beteiligten die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts und damit die Anwesenheit aller Mitglieder des Spruchkörpers feststellen können.
Hinweis:
Vorschriftsmäßig besetzt ist das erkennende Gericht, wenn jeder an der Verhandlung und Entscheidung beteiligte Richter die zur Ausübung des Richteramts erforderliche Fähigkeit besitzt, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrzunehmen und in sich aufzunehmen. Die beteiligten Richter müssen körperlich und geistig in der Lage sein, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen, selbstständig zu urteilen und so an einer sachgerechten Entscheidung mitzuwirken.
Dies erfordert nach dem Beschl. des BFH v. 30.6.2023 (V B 13.22, DStR 2023, 1600 ff. = DB 2023, 1901 ff. = NJW 2023, 2596 ff.), dass alle zur Entscheidung berufenen Richter während der „Videokonferenz” für die lediglich „zugeschalteten” Beteiligten sichtbar sind. Nicht zulässig sei es daher, den alleinigen Bildausschnitt auf einzelne Richter – etwa den Vorsitzenden – zu beschränken. „Zugeschaltete” Prozessbeteiligte müssten vielmehr alle Richter sehen und hören können. Wie dies gewährleistet werde, sei Sache des Gerichts, das die Gestattung nach § 91a Abs. 1 S. 1 FGO erteilt.
Hinweis:
Auf die Beachtung der Vorschriften über die Besetzung des Gerichts kann nicht nach § 155 S. 1 FGO i.V.m. § 295 ZPO wirksam verzichtet werden.
2. Privatrechtlich organisierte Person als Behörde
Die Frage, inwieweit ein „Beliehener”, also einem Privatrechtssubjekt, das ihm übertragene öffentlichen Aufgabe unter Einsatz hoheitlicher Befugnisse wahrnimmt (hier: eine rechtsfähige Stiftung des bürgerlichen Rechts – Stiftung Zentrale Stelle Verpackungsregister) als „Behörde” eingestuft werden kann, ist bisher nicht einheitlich beantwortet worden. Sie ist u.a. relevant geworden bei der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit nach § 52 VwGO.
In der Rechtsprechung und Literatur ist die Frage, ob ein Beliehener als Bundesbehörde i.S.d. § 52 Nr. 2 VwGO anzusehen ist, unterschiedlich beantwortet und überwiegend verneint (vgl. Verweisungsbeschluss S. 2 ff., der den Beschl. des VG Düsseldorf v. 11.5.2020 – 6 K 28/20, juris Rn 11 ff. mit entsprechenden Nachweisen zitiert; a.A. etwa VG Berlin, Beschl. v. 2.6.2022 – 26 K 78/22, juris Rn 5 ff.; vgl. Redeker/von Oertzen, VwGO, 17. Aufl. 2022, § 52 Rn 14; Ziekow in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), VwGO, 5. Aufl. 2018, § 52 Rn 26; Stuttmann, DVBl. 2011, 1202, 1203 f.).
Demgegenüber hat das BVerwG in seinem Beschl. v. 9.1.2023 (10 AV 1.23, NVwZ 2023, 434 f. = UPR 2023, 179 f. = GewArch 2023, 218 f.) die umfassende rechtliche Eingliederung in die Bundesverwaltung und die bundesweite Tätigkeit als Rechtfertigung dafür angenommen, die beliehene Stelle für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit den in § 52 Nr. 2 S. 1 VwGO genannten Bundesbehörden und sonstigen bundesunmittelbaren öffentlich-rechtlichen Einrichtungen organisationsrechtlich gleichzustellen. Die privatrechtlich organisierte Stiftung sei funktional eine Behörde i.S.d. § 1 Abs. 4 VwVfG, weil sie Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehme, und zwar bundesweit. Sie sei auch durch die Vorschriften des Verpackungsgesetzes (v. 5.7.2017, BGBl I S. 2234), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes v. 22.9.2021 (BGBl I S. 4363), sowohl hinsichtlich der Art und Weise ihrer Errichtung als Privatrechtssubjekt als auch hinsichtlich der Überwachung der Aufgabenerfüllung und der Eingriffsbefugnisse des Umweltbundesamtes, dem nicht nur die Rechts-, sondern auch die Fachaufsicht über die Zentrale Stelle obliege, in besonderer Weise organisatorisch in die Bundesverwaltung eingegliedert.
ZAP F. 19 R, S. 1081–1088
Von Rechtsanwalt Prof. Dr. Bernd Andrick, VorsRiVG a.D., Münster