Gegen einen ausgebliebenen oder abwesenden Angeklagten findet in den Tatsacheninstanzen des Strafverfahrens eine Hauptverhandlung grds. nicht statt (vgl. § 230 Abs. 1, § 285 Abs. 1 S. 1 StPO). Dies beruht einerseits auf dem Anspruch auf rechtliches Gehör und andererseits auf der sich aus § 244 Abs. 2 StPO ergebenden Aufklärungspflicht des Gerichts. Damit korrespondiert die Pflicht des Angeklagten zum Erscheinen und Verbleiben in der Hauptverhandlung. Ausnahmen hiervon sind in §§ 231 Abs. 2, 231b, 232, 233 StPO sowie beim Einspruch gegen einen Strafbefehl nach § 411 Abs. 2 StPO normiert (Einzelheiten s. Burhoff, ZAP 2024, 443; zum Bußgeldverfahren Burhoff, ZAP 2017, 437).
Diese Grundsätze gelten über § 332 StPO grds. auch für die Berufungshauptverhandlung. Gerade hier bleiben aber die Angeklagten häufiger aus. Das kann unterschiedliche Gründe haben, wie etwa die Absicht, hierdurch gezielt eine nachteilige Entscheidung zu verhindern oder das fehlende Vertrauen in die Erfolgsaussicht der eigenen Berufung sowie bei Alkohol- oder Drogenabhängigen ein Rückfall mit der Folge, dass es an der erforderlichen Sorgfalt bei der Beachtung des Termins fehlt. Für diese Verfahrenskonstellation sieht die StPO in § 329 StPO eine eigene Regelung vor. Diese ist durch das am 25.7.2015 in Kraft getretene „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe” (BT-Drucks 18/3562 = BR-Drucks 491/14) i.d.F. der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (BT-Drucks 18/5254, S. 3; vgl. BGBl I, S. 1332) an die Rspr. des EGMR (Urt. v. 8.11.2012 – 30804/07, NStZ 2013, 350 [Neziraj]) angepasst worden (Einzelheiten bei Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 2024, Rn 813 ff. m.w.N. zu Lit. und Rspr. [im Folgenden: Burhoff, HV]). § 329 StPO sieht danach folgendes Regelungsgefüge vor:
- Ist bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht erschienen und das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so hat das Gericht nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen. Die Berufungsverwerfung ist ausgeschlossen, wenn der Angeklagte genügend entschuldigt ist (dazu Teil 2, demnächst in diesem Heft). Die Verwerfung der Berufung setzt zudem eine ordnungsgemäße Ladung des Angeklagten voraus (s. II.). Weitere Verwerfungsfälle sind in § 329 Abs. 2 StPO enthalten (s. IV. 2.).
- Soweit die Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich ist, findet die Hauptverhandlung nach § 329 Abs. 5 S. 1 StPO ohne ihn statt, wenn er durch einen Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht vertreten wird oder seine Abwesenheit im Fall der Verhandlung auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft nicht genügend entschuldigt ist (s. VI. und Teil 2, demnächst in diesem Heft).
- Handelt es sich um eine Berufung der Staatsanwaltschaft, kann ohne den ausgebliebenen Angeklagten verhandelt werden (s. V.). Allerdings ist § 329 Abs. 2 StPO zu beachten.
- Als Rechtsmittel stehen für den ausgebliebenen Angeklagten der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Revision zur Verfügung (dazu Teil 2, demnächst in diesem Heft).