1. Aufruf der Sache
Die Berufung des Angeklagten darf/kann – unabhängig vom Vorliegen weiterer Voraussetzungen – nur verworfen werden, wenn der Angeklagte bei Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins ausgeblieben ist (zu weiteren Voraussetzungen VI. und Teil 2, demnächst in diesem Heft). Beginn des Hauptverhandlungstermins ist nach §§ 324, 243 Abs. 1 S. 2 StPO – auch bei einem sog. Fortsetzungstermin – der Aufruf der Sache (BGH, Urt. v. 17.1.2024 – 2 StR 459/22, NJW 2024, 1523 = StRR 6/2024, 16; OLG Dresden, Beschl. v. 30.7.2021 – 3 OLG 22 Ss 246/21, NJ 2021, 416; OLG Hamburg, Beschl. v. 25.1.2018 – 2 Rev 96/17, NStZ 2018, 559; Burhoff, HV, Rn 2013 ff.; zum Sich-Entfernen des zunächst erschienenen Angeklagten s. IV.).
Hinweis:
Die Berufung kann nicht verworfen werden, wenn die Hauptverhandlung unabhängig vom Erscheinen des Angeklagten vertagt werden muss, weil also z.B. ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und die Hauptverhandlung wegen krankheitsbedingter Verhinderung des Verteidigers nicht durchgeführt werden kann (OLG Köln, Beschl. v. 24.6.2016 – 1 RVs 114/16, StV 2016, 804 unter Hinw. auf den Normzweck des § 329 StPO).
Die Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO ist auch nicht zulässig, wenn der Angeklagte vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden war oder ggf. auf Antrag des Verteidigers in der Hauptverhandlung noch entbunden wird (OLG Braunschweig, Beschl. v. 18.5.2016 – 1 Ss 27/16, StV 2018, 152; s. auch Burhoff, HV, Rn 1773). Der Antrag gem. § 233 StPO, den Angeklagten vom Erscheinen in der (Berufungs-)Hauptverhandlung zu entbinden, ist auch noch am Beginn der Berufungshauptverhandlung möglich (BGH, Beschl. v. 29.1.1974 – 1 StR 198/73, BGHSt 25, 281; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 233 StPO Rn 6 m.w.N.). Wird dem Antrag stattgegeben, braucht der Angeklagte sich auch nicht vertreten zu lassen (§ 234 StPO). Wird der Antrag abgelehnt, kann sofort nach § 329 Abs. 1 StPO verfahren werden; wird ihm stattgegeben, kann nicht nach § 329 StPO verfahren werden (OLG Braunschweig, a.a.O.).
2. Verhandlungsunfähigkeit
Ausgeblieben/nicht erschienen ist der Angeklagte nicht nur, wenn er überhaupt nicht erschienen ist, sondern auch, wenn er zwar erschienen, jedoch wegen Verhandlungsunfähigkeit geistig abwesend ist, z.B. infolge Trunkenheit (BGH, Beschl. v. 6.10.1970 – 5 StR 199/70, BGHSt 23, 331; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 14 m.w.N.; zur Verhandlungsfähigkeit Burhoff, HV, Rn 3220; vgl. auch § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StPO und dazu unten IV. 2.). Das „Verschulden” des Angeklagten an seiner Verhandlungsunfähigkeit muss jedoch feststehen (OLG Hamm, Beschl. v. 15.2.2007 – 3 Ss 573/06). Gegebenenfalls muss sich das Gericht also mit einer bekannten Alkoholabhängigkeit des Angeklagten auseinandersetzen (OLG Hamm, a.a.O.).
3. „Bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins”
In § 329 Abs. 1 S. 1 StPO heißt es „bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins”. Das bedeutet, dass es sich anders als nach früherem Recht nicht um den ersten Berufungshauptverhandlungstermin in der anhängigen Sache handeln muss und somit z.B. auch das Nichterscheinen in einem Fortsetzungstermin erfasst wird (OLG Dresden, Beschl. v. 30.7.2021 – 3 OLG 22 Ss 246/21, NJ 2021, 416; grds. auch OLG Hamburg, Beschl. v. 25.1.2018 – 2 Rev 96717, NStZ 2018, 559; OLG Hamm, Beschl. v. 3.5.2022 – 5 RVs 38/22; OLG Nürnberg, Beschl. v. 30.4.2028 – 2 OLG 2 Ss 240/17, StRR 8/2018, 3 [Ls.]; BT-Drucks 18/3562, S. 68; Spitzer, StV 2016, 48, 49; zum Ausbleiben des Angeklagten, wenn der Angeklagte erschienen ist, während einer Pandemie aber „nur” keine FFP2-Maske trägt, LG Leipzig, Urt. v. 27.9.2022 – 9 Ns 703 Js 14010/22). Die insoweit vorliegende Rspr. zu § 329 Abs. 1 StPO a.F. ist nicht mehr anwendbar. Denn sie beruhte auf der alten Fassung des § 329 Abs. 1 StPO, in der es hieß „bei Beginn der Hauptverhandlung”.