1. Strafbefehlsverfahren
Im Strafbefehlsverfahren kann sich der Angeklagte nach § 411 Abs. 2 S. 1 StPO auch in der Berufungshauptverhandlung durch einen Vertreter vertreten lassen (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.2.2023 – 1 ORs 2 Ss 45/22, NStZ 2023, 383 m.w.N.), selbst wenn nach § 236 StPO das persönliche Erscheinen angeordnet worden ist (OLG Dresden, Beschl. v. 24.2.2005 – 2 Ss 113/05, StV 2005, 492 m.w.N.; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 12.12.1983 – 2 Ws 678/83, StV 1985, 52; OLG Zweibrücken, a.a.O.). Das gilt allerdings nur, wenn das Verfahren durch einen Strafbefehl eingeleitet worden ist, also nicht im Fall des § 408 Abs. 3 S. 2 StPO (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 14 m.w.N.).
Hinweis:
Das gilt nicht in (sonstigen) Bagatellsachen (§ 232 StPO), wenn der Hinweis an den Angeklagten, dass ohne ihn verhandelt werden könne (§ 231 Abs. 1 S. 1 StPO), nicht erfolgt oder sein persönliches Erscheinen angeordnet worden ist.
2. Entwicklung der Rechtsprechung
Umstritten war in Rspr./Lit. dann lange Zeit, ob über die Zulässigkeit der Vertretung im Strafbefehlsverfahren hinaus eine Vertretung durch einen verteidigungsbereiten Vertreter/Verteidiger, der in der Hauptverhandlung anwesend ist, zulässig ist und ob das ggf. der Verwerfung der Berufung entgegenstand. Diese Fragen sind dann durch das „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe” v. 17.7.2015 in § 329 StPO geregelt worden (s. V. 3.).
Zu der Verwerfung der Berufung auch in den Fällen, in denen ein vertretungsbereiter Verteidiger in der Hauptverhandlung anwesend ist, hatte zum früheren Recht dann mehrfach der EGMR Stellung genommen. Der hat in seiner Rspr. immer wieder das Recht des Angeklagten, sich eines Verteidigers zu bedienen (Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK), betont (vgl. u.a. EGMR, Urt. v. 13.2.2001 – 29731/96, NJW 2001, 2387; EGMR, Urt. v. 22.9.2009 – 13566/06, HRRS 2009 Nr. 981; dazu Gundel, NJW 2001, 2380; Meyer-Mews, NJW 2002, 1928 m. Anm. zu EGMR, m.w.N. zur EGMR-Rspr.). Der EGMR hatte sich schließlich im Verfahren Neziraj noch einmal geäußert und die Abwesenheitsverwerfung nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO a.F. in diesen Fällen als einen Verstoß u.a. gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK angesehen (EGMR, Urt. v. 8.11.2012 – 30804/07, NStZ 2013, 350; u.a. mit Anm. Püschel, StraFo 2012, 490). In der Folgezeit haben dann sämtliche OLG, die nach dem Urteil des EGMR v. 8.11.2012 (a.a.O.) entschieden haben, die Umsetzung dieser Rspr. auf innerstaatliches Recht abgelehnt (vgl. die Nachw. bei Burhoff, HV, Rn 867).
3. Gesetzliche Neuregelung
Das „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe” v. 17.7.2015 (vgl. BT-Drucks 18/3562) hat § 329 StPO zum 25.7.2015 geändert und an die Rspr. des EGMR angepasst. Danach gilt nunmehr folgende Regelung:
Nach § 329 Abs. 1, 2 StPO darf die Verwerfung der Berufung des Angeklagten grds. nicht mehr erfolgen, wenn statt des Angeklagten ein entsprechend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidiger in dem Berufungshauptverhandlungstermin erschienen ist. Anstelle der nicht mehr zulässigen Verwerfung wird in Anwesenheit des Verteidigers ohne den Angeklagten verhandelt, soweit nicht dessen Anwesenheit erforderlich ist (vgl. V. 5.; dazu – teilweise krit. – Frisch, NStZ 2015, 69; Kunze, ZAP 2014, 1275). Auch wenn die Neufassung des § 329 StPO kein Recht des Angeklagten auf Abwesenheit in der Berufungsverhandlung begründet hat (BT-Drucks 18/3562, S. 61), hat § 329 Abs. 1 S. 1 StPO die Vorgaben des EGMR umgesetzt. Denn: Lässt sich der unentschuldigt ausgebliebene Angeklagte zu Beginn eines Berufungshauptverhandlungstermins von einem erschienenen, mit schriftlicher Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger (vgl. V. 4.) vertreten, ist eine Verwerfung seiner Berufung im Grundsatz ausgeschlossen. Daran ändert auch die Anordnung des persönlichen Erscheinens (§§ 332, 236 StPO) nichts (BT-Drucks 18/3562, S. 70; Deutscher, StRR 2015, 284).
Hinweis:
Die Berufung ist nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO hingegen zu verwerfen, wenn
- sowohl der Angeklagte als auch der bevollmächtigte Verteidiger ausbleiben,
- der unverteidigte Angeklagte nicht erscheint oder
- der anwesende Verteidiger keine schriftliche/nachgewiesene Vertretungsvollmacht besitzt; durch das „Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs” v. 5.7.2017 (BGBl I, S. 2208), ist in § 329 StPO die Formulierung „schriftliche” durch die „medienneutrale” Formulierung (s. BT-Drucks 18/9416, S. 70) „nachgewiesene” ersetzt worden, was jedoch keine materiellen Auswirkungen hat.
Im Übrigen gelten die zwingenden Verwerfungsfälle des § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 1–3 (vgl. IV. 2.).
4. Schriftliche/nachgewiesene Vertretungsvollmacht des Verteidigers
Voraussetzung für die Beschränkung der Verwerfungskompetenz des Berufungsgerichts ist, dass der Angeklagte zu Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins von einem mit schriftlicher/nachgewiesener Vertretungsvollmac...