Die Vorschrift konkretisiert die negativen Eigentümerbefugnisse. Sie gibt dem Beeinträchtigten ein Selbsthilferecht, mit dem er sich gegen Wurzeln und Zweige von Bäumen und Sträuchern, die zwar auf dem Nachbargrundstück stehen, aber in sein Grundstück hineinwachsen bzw. herüberragen, zur Wehr setzen kann. Der Sinn und Zweck der Vorschrift besteht darin, nachbarliche Konflikte möglichst ohne die Anrufung staatlicher Gerichte zu lösen.
Das Selbsthilferecht schließt den Beseitigungsanspruch des betroffenen Grundstückseigentümers aus § 1004 Abs. 1 S. 1 nicht aus (BGH NJW 2004, 603). Beide Regelungen stehen gleichrangig nebeneinander. Der Betroffene ist nicht gehindert, gegen seinen Nachbarn den Beseitigungsanspruch geltend zu machen anstatt zur Selbsthilfe zu greifen.
Die Wurzeln müssen in das betroffene Grundstück hinübergewachsen sein; eine Grenzüberschreitung ist notwendig. Auch hinsichtlich der Zweige muss eine Grenzüberschreitung vorliegen; sie müssen also in den Luftraum über dem betroffenen Grundstück herüberragen. Das Selbsthilferecht ist nicht auf Zweige bis zu einer bestimmten Höhe beschränkt, vielmehr dürfen grundsätzlich herüberragende Zweige in jeder Höhe abgeschnitten werden. Dies allerdings erst dann, wenn eine dem Eigentümer des Baumes oder Strauches gesetzte angemessene Frist zur Beseitigung des Überwuchses ergebnislos abgelaufen ist. Bei der Bemessung der Frist sind gärtnerisch, botanische Belange zu berücksichtigen. Deshalb darf ein Abschneiden während der Wachstumsperiode oder während der Zeit des Fruchtstandes nicht verlangt werden (MüKo-BGB/Brückner, § 910 Rn 6).
Nach § 910 Abs. 2 BGB besteht das Selbsthilferecht nur, wenn die hinübergewachsenen Wurzeln und die herüberragenden Zweige die Benutzung des betroffenen Grundstücks beeinträchtigen. Bei der Beurteilung, ob eine Beeinträchtigung vorliegt, ist ein objektiver Maßstab anzulegen (BGHZ 157, 33, 39). Sie ist jedenfalls dann gegeben, wenn die wirtschaftliche Verwertung des Grundstücks beeinträchtigt wird. Aber auch jede andere Art der Beeinträchtigung reicht aus. Sie muss nicht, wie bei § 906 BGB, die Grenze der Wesentlichkeit erreichen oder überschreiten (LG Osnabrück, Urt. v. 21.5.2010 – 7 O 361/10); auch unerhebliche Beeinträchtigungen müssen nicht hingenommen werden (AG Königstein NJW-RR 2000, 1256; PWW/Lemke, a.a.O., § 910 Rn 12; Staudinger/Roth, BGB [2009], § 910 Rn 18; a.A. OLG Köln NJW-RR 1997, 656; OLG Saarbrücken OLGR 2007, 927 ff.; offen gelassen in BGHZ 157, 33, 39).