1. Nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis
Die gesetzlichen Regelungen des Nachbarrechts (§§ 905–924 BGB, Landesnachbarrecht) können nicht sämtliche Konfliktsituationen erfassen und lösen. Weitergehende Duldungs- und Unterlassungspflichten müssen statuiert werden. Dies geschieht mit Hilfe des von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsinstituts des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses. Es verpflichtet die Nachbarn nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) zur besonderen gegenseitigen Rücksichtnahme und beschränkt sie in der Ausübung ihrer Rechte. Allerdings kommen die Grundsätze des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses nur dann zur Anwendung, wenn ein über die gesetzlichen Regelungen hinausgehender billiger Ausgleich der widerstreitenden Interessen dringend geboten erscheint; wenn diese Voraussetzung vorliegt, ist die Ausübung eines Abwehranspruchs aus § 1004 Abs. 1 BGB unter Berücksichtigung vorrangiger Interessen des Störers unzulässig (BGH NJW-RR 2012, 1160, 1162 m.w.N.).
Die Pflicht zur ausnahmsweisen Duldung eines beeinträchtigenden Verhaltens des Störers besteht nur im Hinblick auf solche Maßnahmen, die zwar im Verhältnis zu dem gestörten Nachbarn rechtswidrig, ansonsten aber rechtmäßig sind (PWW/Lemke, a.a.O., § 903 Rn 15).
Die Anwendung der Grundsätze des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses setzt nicht voraus, dass die benachbarten Grundstücke eine gemeinsame Grenze haben (s. nur BGH NJW 2003, 1392). Der Anwendungsbereich ist jedoch auf solche Konflikte beschränkt, die sich aus der Nutzung verschiedener Grundstücke ergeben.
Hinweis:
Für einen Interessenausgleich zwischen verschiedenen Nutzern eines Grundstücks wie z.B. zwischen Mietern in einem Mehrfamilienhaus kann das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis nicht herangezogen werden (BGHZ 157, 188, 190 ff.).
2. Nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch analog § 906 Abs. 2 S. 2 BGB
Der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch hat seine gesetzliche Grundlage in § 906 Abs. 2 S. 2 BGB (s.o. unter II. 3.). Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat den Anwendungsbereich über die gesetzliche Regelung hinaus ständig erweitert. Danach ist ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch immer dann gegeben, wenn von einem Grundstück im Rahmen privatwirtschaftlicher Benutzung rechtswidrige Einwirkungen auf ein anderes Grundstück ausgehen, die der Eigentümer oder Besitzer des betroffenen Grundstücks nicht dulden muss, die er aus besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen jedoch nicht gem. §§ 1004 Abs. 1, 862 Abs. 1 BGB unterbinden kann, sofern er hierdurch Nachteile erleidet, die das zumutbare Maß einer entschädigungslos hinzunehmenden Beeinträchtigung übersteigen (s. nur BGH NJW-RR 2012, 2343, 2344). Anspruchsvoraussetzung ist, dass die das Nachbargrundstück beeinträchtigenden Einwirkungen von einer der konkreten Grundstücksnutzung entsprechenden Benutzung des emittierenden Grundstücks ausgehen und zu diesem einen sachlichen Bezug aufweisen (BGH NZM 2009, 834).
Auf die Art der Einwirkung kommt es nicht entscheidend an, sondern auf die von ihr ausgehende unzumutbare Eigentumsbeeinträchtigung. Der Anspruch ist, ebenso wie nach der gesetzlichen Regelung, subsidiär. Er setzt voraus, dass der beeinträchtigte Eigentümer oder Besitzer aus besonderen Gründen gehindert ist, die Einwirkung rechtzeitig zu unterbinden. Im Gegensatz zu der gesetzlichen Regelung, die dem Betroffenen aus Rechtsgründen eine Duldungspflicht auferlegt, lässt der BGH einen faktischen Duldungszwang genügen. Dieser kann sich u.a. daraus ergeben, dass der Betroffene die abzuwehrende Gefahr nicht rechtzeitig erkannt hat und auch nicht erkennen konnte.
Der Anspruch ist auf einen angemessenen Ausgleich in Geld gerichtet. Das ist etwas anderes als ein Schadensersatzanspruch. Dieser soll Einwirkungen auf eine Sache wirtschaftlich ungeschehen machen, indem der beeinträchtigte Eigentümer so zu stellen ist, wie er ohne die Beeinträchtigung stünde. Der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch dagegen soll die dem beeinträchtigten Grundstückseigentümer in besonderen Fällen auferlegte Duldungspflicht kompensieren. Ausgeglichen wird nur der unzumutbare Teil der Beeinträchtigung, weil der Betroffene die Einwirkungen bis zur Grenze der Zumutbarkeit entschädigungslos hinzunehmen hat. Der Höhe nach bemisst sich der Anspruch nach den Grundsätzen, welche die Rechtsprechung zur Höhe der Enteignungsentschädigung herausgearbeitet hat. Dieser kann im Einzelfall die Höhe des Schadensersatzes erreichen.