Nach § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden, wenn ein solcher gegen die Verletzung eröffnet ist (Gebot der Rechtswegerschöpfung). Damit soll erreicht werden, dass die Untergerichte die Möglichkeit erhalten, einem Grundrechtsverstoß abzuhelfen.
Die Vorschrift ist ferner Anknüpfungspunkt für den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. Dessen genaue Herleitung ist umstritten wie auch die Frage, inwieweit er neben dem Gebot der Rechtswegerschöpfung eine eigenständige Zulässigkeitsbegrenzung der Verfassungsbeschwerde ist und sein darf (Henke, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, a.a.O., § 90 Rn 133). Nach dem Grundsatz der Subsidiarität ist eine Verfassungsbeschwerde unzulässig, wenn in zumutbarer Weise Rechtsschutz durch die Anrufung der Fachgerichte erlangt werden kann. Die Pflicht zur Anrufung der Fachgerichte besteht nur in Ausnahmefällen nicht, insbesondere wenn die Anrufung der Fachgerichte unzumutbar ist (BVerfG, Beschl. v. 25.6.2015 – 1 BvR 20/15).
Praxishinweis:
Aufgrund der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde können Beschwerdeführer gehalten sein, im fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung mit einer Anhörungsrüge auch dann anzugreifen, wenn sie sich in der Verfassungsbeschwerde nicht auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör berufen. Dies gilt dann, wenn ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte naheliegt und zu erwarten wäre, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren den Rechtsbehelf ergreifen würden (BVerfG, Beschl. v. 16.7.2013 – 1 BvR 3057/11).
Rechtsweg in diesem Sinne ist jeder in einer Rechtsnorm vorgesehene Instanzenzug (BVerfGE 4, 193, 198) oder anders ausgedrückt, jede gesetzlich normierte Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts (BVerfGE 67, 157, 170). Tatsächlich scheitert eine Vielzahl von Verfassungsbeschwerden an der Nichterschöpfung des Rechtswegs. Problematisch ist hier die ausufernde und sich teilweise widersprechende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Ein Rechtsweg ist erschöpft, wenn keine Möglichkeit mehr besteht, im fachgerichtlichen Verfahren eine Aufhebung der geltend gemachten Beschwer zu erreichen (BVerfGE 8, 222, 225). Dazu muss der jeweilige Instanzenzug vollständig durchlaufen werden.
Beispiele für weitere Rechtsbehelfe zur Rechtswegerschöpfung:
- Nichtigkeits- und Restitutionsklagen,
- Abänderungsanträge,
- Wiedereinsetzungsanträge,
- Antrag auf mündliche Verhandlung (eine erneute Beschlussfassung auslösender Antrag),
- Gegenvorstellung nach § 33a StPO und
- andere für den Fall von Gehörsverstößen durch das Anhörungsrügengesetz neu geschaffene oder dem Wortlaut nach erweiterte Rechtsbehelfe.
Praxishinweis:
Der formlose Rechtsbehelf der Gegenvorstellung gehört grundsätzlich nicht zum Rechtsweg gem. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG. Eine Gegenvorstellung kann nur dann ausnahmsweise als fristwahrend anerkannt werden, wenn mit ihr die Verletzung von Prozessgrundrechten durch das letzterkennende Gericht gerügt wird (BVerfG, Beschl. v. 13.11.2001 – 2 BvR 1879/01).
Bleibt ein Rechtsmittel aus prozessualen Gründen erfolglos, ist damit der Rechtsweg nicht erschöpft. Anderenfalls könnte mit der Einlegung unzulässiger Rechtsbehelfe immer eine Rechtswegerschöpfung erreicht werden.
Wann ein Rechtsbehelf offensichtlich unzulässig ist, lässt sich nicht immer ohne Weiteres feststellen. Lübbe-Wolff (AnwBl 2005, 509, 513) hat dazu auf die sog. Neunzigzwei-Dreiundneunzigeins-Falle (§§ 90 Abs. 2, 93 Abs. 2 BVerfGG) hingewiesen: Ob es sich um Rechtsunsicherheiten hinsichtlich der Existenz oder nur um Rechtsunsicherheiten hinsichtlich der Reichweite der Verfügbarkeit eines Rechtsbehelfs handelt – in beiden Fällen kann sich für den Beschwerdeführer, der die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde erwägt, dasselbe Problem stellen: Erhebt er sogleich Verfassungsbeschwerde, so läuft er Gefahr, dass die Verfassungsbeschwerde scheitert, weil er einen Rechtsbehelf nicht eingelegt hat, von dem nicht auszuschließen ist, dass er zulässigerweise hätte eingelegt werden können (keine Erschöpfung des Rechtswegs). Legt er dagegen zunächst noch – erfolglos – den zweifelhaften Rechtsbehelf ein, so läuft er Gefahr, dass seine Verfassungsbeschwerde wegen Verfristung als unzulässig behandelt wird.
Praxishinweis:
Zur Vermeidung dieser Falle wird ein "Parken der Verfassungsbeschwerde im Allgemeinen Register" empfohlen: Es werden sowohl der Rechtsbehelf, dessen Statthaftigkeit zweifelhaft ist, als auch innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG Verfassungsbeschwerde eingelegt. Die Einlegung der Verfassungsbeschwerde erfolgt mit dem Hinweis, dass der betreffende Rechtsbehelf eingelegt wurde, und der Bitte, die Verfassungsbeschwerde deshalb einstweilen noch nicht in das Verfahrensregister, sondern vorläufig nur in das Allgemeine Register einzutragen. Dem wird regelmäßig entsprochen und die Übertragung in das...