a) Prüfungspflicht
In § 329 Abs. 2, Abs. 4 StPO ist eine Prüfungspflicht für das Berufungsgericht im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung normiert (dazu eingehend krit. Sommer StV 2016, 55; Spitzer StV 2016, 48, 53). Insoweit gilt: Wird der abwesende Angeklagte durch einen vertretungsbefugten Verteidiger vertreten und darf deshalb seine Berufung nicht verworfen werden, ergibt sich für das Berufungsgericht nach § 329 Abs. 2, 4 StPO eine Prüfungspflicht. Das Berufungsgericht muss nach § 329 Abs. 2 S. 1 StPO prüfen, ob die Anwesenheit des Angeklagten erforderlich ist:
- Anwesenheit nicht erforderlich: Die Hauptverhandlung findet ohne den Angeklagten statt (§ 329 Abs. 2 S. 1 1. Alt. StPO).
- Anwesenheit trotz Vertretung erforderlich: Das Berufungsgericht muss den Angeklagten zu einer Fortsetzung der Hauptverhandlung laden und sein persönliches Erscheinen anordnen (§ 329 Abs. 4 S. 1 StPO). Erscheint der Angeklagte dann in der neuen Hauptverhandlung unentschuldigt bei weiterbestehender Erforderlichkeit seiner Anwesenheit nicht, muss seine Berufung verworfen werden (§ 329 Abs. 4 S. 2 StPO). Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut muss es sich bei dem neuen Termin um eine Fortsetzung der Hauptverhandlung handeln, die innerhalb der Fristen des § 229 StPO zu erfolgen hat. Über diese Möglichkeiten ist der Angeklagte mit der Ladung zu belehren (§ 329 Abs. 4 S. 3 StPO).
Hinweis:
Beim unverteidigten Angeklagten, der auf seine Berufung hin unentschuldigt nicht erscheint, erfolgt keine Prüfung der Erforderlichkeit, sondern nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO zwingend die Verwerfung seiner Berufung. Insoweit hat sich durch die Neuregelungen in § 329 StPO nichts geändert.
b) Erforderlichkeitsprüfung
Notwendig ist eine allgemeine Erforderlichkeitsprüfung durch das Gericht. Diese ist zwingend. Ursprünglich war vorgesehen, die Prüfungspflicht auf "besondere Gründe" zu beschränken (BT-Drucks 18/3562, S. 73 f.). Das hätte aber die Annahme nahegelegt, dass es sich bei § 329 Abs. 2 StPO um eine Ausnahmeregelung handelt (i.d.S. OLG Hamburg StV 2018, 145; Böhm NJW 2015, 3132, 3133; krit. Sommer StV 2016, 55 ff.). Um zu verdeutlichen, dass dies nicht der Fall ist, ist die Beschränkung auf "besondere Gründe", die die Anwesenheit erforderlich machen, im Gesetzgebungsverfahren gestrichen worden (BT-Drucks 18/5254, S. 6). Bei der Auslegung der Vorschrift wird man allerdings die Gesetzesbegründung zu den zunächst vorgesehenen "besonderen Gründen", die die Anwesenheit des Angeklagten "erfordern" sollten (vgl. (BT-Drucks 18/3562, S. 73 f.), heranziehen können. Denn in den Fällen ist nach der nun schwächeren Formulierung die Anwesenheit des Angeklagten auf jeden Fall auch erforderlich.
Hinweise:
Die mit dem Prüfungserfordernis verbundene bzw. aus ihm folgende gestreckte Verfahrensgestaltung (vgl. Deutscher StRR 2015, 294) hat im Übrigen zur Folge, dass bei Annahme der Erforderlichkeit eine Vorführung oder Verhaftung des Angeklagten statt der Fortsetzung der Hauptverhandlung nur bei einer Berufung der Staatsanwaltschaft oder nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht vorgesehen ist (§ 329 Abs. 3 StPO).
Das Berufungsgericht darf im Übrigen auch nicht die Anwesenheit des Angeklagten schon allein deshalb für erforderlich erachten, um dann nach § 329 Abs. 4 StPO zu verfahren und bei einer erneuten Säumnis des Angeklagten die Berufung verwerfen zu können (Deutscher StRR 2015, 284). Das wäre eine Umgehung des mit der Neuregelung verfolgten Sinn und Zweck (dazu auch Sommer StV 2016, 55; Gerson StV 2018, 146 Anm. zu OLG Hamburg StV 2018, 145).
In § 329 Abs. 2, Abs. 4 StPO ist keine Regelung dazu getroffen, wann und wie lange die Erforderlichkeitsprüfung stattzufinden hat. Obwohl eine insoweit klare Vorgabe fehlt, ist die Erforderlichkeitsprüfung nicht auf den Beginn der Berufungshauptverhandlung beschränkt, sondern während des gesamten Verlaufs der Verhandlung durchzuführen (BT-Drucks 18/5254, S. 6; Frisch NStZ 2015, 69, 71; Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 15a). Das folgt im Übrigen auch schon daraus, dass § 329 StPO nicht mehr auf den "Beginn der Hauptverhandlung" abstellt, sondern auf den Beginn eines Hauptverhandlungstermins. Es kann also die Anwesenheit des Angeklagten, die zu Beginn der Hauptverhandlung nicht erforderlich war, während des Laufs einer sich über mehrere Hauptverhandlungstermine erstreckenden Hauptverhandlung erforderlich werden bzw. geworden sein.
Hinweis:
§ 329 Abs. 2 S. 2 StPO stellt im Übrigen klar, dass die Möglichkeit, den Angeklagten nach § 231b StPO wegen ordnungswidrigen Benehmens aus dem Sitzungszimmer zu entfernen oder zur Haft abzuführen (§ 177 GVG) und nach der dortigen Maßgabe ohne ihn weiter zu verhandeln, unbeschadet von § 329 StPO, der über § 332 StPO anwendbar ist.
c) Prüfungskriterien/-maßstäbe
Auszugehen ist von folgenden Prüfungskriterien (vgl. auch Burhoff, HV, Rn 834): Die Prüfung der Erforderlichkeit der Anwesenheit muss sich allgemein zunächst an der Aufklärungspflicht des Gerichts (§ 244 Abs. 2 StPO) ausrichten, wobei materiell- und verfa...