Gegen einen ausgebliebenen oder abwesenden Angeklagten findet in den Tatsacheninstanzen des Strafverfahrens eine Hauptverhandlung grundsätzlich nicht statt (vgl. §§ 230 Abs. 1, 285 Abs. 1 S. 1 StPO). Dies beruht einerseits auf dem Anspruch auf rechtliches Gehör und andererseits auf der sich aus § 244 Abs. 2 StPO ergebenden Aufklärungspflicht des Gerichts. Damit korrespondiert die Pflicht des Angeklagten zum Erscheinen und Verbleiben in der Hauptverhandlung. Ausnahmen hiervon sind in §§ 231 Abs. 2, 231b, 232, 233 StPO sowie beim Einspruch gegen einen Strafbefehl nach § 411 Abs. 2 StPO normiert (wegen der Einzelheiten s. Burhoff ZAP F. 22, S. 939 ff.; zum Bußgeldverfahren Burhoff ZAP F. 21, S. 311 ff.).
Diese Grundsätze gelten über § 332 StPO grundsätzlich auch für die Berufungshauptverhandlung. Gerade hier bleiben aber die Angeklagten häufiger aus. Das kann unterschiedliche Gründe haben, wie etwa die Absicht, hierdurch gezielt eine nachteilige Entscheidung zu verhindern oder das fehlende Vertrauen in die Erfolgsaussicht der eigenen Berufung sowie bei Alkohol- oder Drogenabhängigen ein Rückfall mit der Folge, dass es an der erforderlichen Sorgfalt bei der Beachtung des Termins fehlt. Für diese Verfahrenskonstellation sieht die StPO in § 329 StPO eine eigene Regelung vor. Diese ist durch das am 25.7.2015 in Kraft getretene "Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe" (BT-Drucks 18/3562 = BR-Drucks 491/14) in der Fassung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (BT-Drucks 18/5254, 3; vgl. BGBl I, S. 1332) an die Rechtsprechung des EGMR (vgl. NStZ 2013, 350 [Neziraj] angepasst worden (Einzelheiten s. Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019, Rn 768 ff. m.w.N. zu Lit./Rspr. zum alten Recht [im Folgenden Burhoff, HV]). § 329 StPO sieht danach folgendes Regelungsgefüge vor:
- Ist bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht erschienen und das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so hat das Gericht nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen. Die Berufungsverwerfung ist ausgeschlossen, wenn der Angeklagte genügend entschuldigt ist (dazu Teil 2, in: ZAP F. 22, S. 962 [III.]). Die Verwerfung der Berufung setzt zudem eine ordnungsgemäße Ladung des Angeklagten voraus (s. unten II.). Weitere Verwerfungsfälle sind in § 329 Abs. 2 StPO enthalten (s. unten IV. 2.).
- Soweit die Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich ist, findet die Hauptverhandlung nach § 329 Abs. 5 S. 1 StPO ohne ihn statt, wenn er durch einen Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht vertreten wird oder seine Abwesenheit im Fall der Verhandlung auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft nicht genügend entschuldigt ist (s. unten VI. und Teil 2, in: ZAP F. 22, S. 962 [III.]).
- Handelt es sich um eine Berufung der Staatsanwaltschaft, kann ohne den ausgebliebenen Angeklagten verhandelt werden (s. unten VI.). Allerdings ist § 329 Abs. 2 StPO zu beachten.
- Als Rechtsmittel stehen ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Revision zur Verfügung (s. dazu Teil 2, in: ZAP F. 22, S. 969 [IV.]).