In dem Urt. v. 16.2.2022 (1 C 6.21, InfAuslR 2022, 271 ff.) befasst sich das BVerwG mit verschiedenen (in seiner Rechtsprechung zum Teil bereits geklärten und daher hier nicht im Einzelnen dargestellten) Themenschwerpunkten im Zusammenhang mit der Ausweisung (§§ 53 ff. AufenthG) und dem hieran anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 AufenthG). Dabei bekräftigt es zunächst seine Auffassung, dass die im Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG vorgegebene Prüfungsstruktur durch Abs. 3 der Vorschrift, der erhöhte Ausweisungsvoraussetzungen für die dort bezeichneten privilegierten Personengruppen festlegt, zwar modifiziert, aber nicht geändert werde. Weiterhin stellt das BVerwG klar, dass der in § 53 Abs. 3 AufenthG verwendete Begriff der Unerlässlichkeit nicht i.S.e. „ultima ratio” zu verstehen sei, sondern zum Ausdruck bringe, dass der Ausweisungsentscheidung eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit des jeweils zu entscheidenden Einzelfalls zugrunde liegen müsse. Hierbei seien insb. zu berücksichtigen: Art und Schwere der begangenen Straftat, die seither vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat, die familiäre Situation, die Kenntnis des Partners von der Straftat bei der Begründung der Beziehung, das Interesse und das Wohl eventueller Kinder, insb. deren Alter, der Umfang der Schwierigkeiten, auf die Kinder oder der Partner im Heimatland des Ausländers treffen würden, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die Dauer des Aufenthalts des Ausländers im Aufenthaltsstaat, die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen des Ausländers zum Gastland sowie zum Bestimmungsland.
In Fortentwicklung seines unter I. 2. dieser Rechtsprechungsübersicht besprochenen Urt. v. 16.12.2021 (1 C 60.20), wonach die Ausländerbehörde gem. § 6 S. 1 und § 42 S. 1 AsylG an die in einem Asylverfahren (zuletzt) getroffene Entscheidung des Bundesamts oder des Verwaltungsgerichts gebunden sei, führt das BVerwG aus, dass diese Bindungswirkung auch für noch nicht bestandskräftige, aber sofort vollziehbare Bescheide gelte, da diese auch im Falle ihrer Anfechtung jedenfalls vorläufig verbindlich seien.
Im Hinblick auf das an die Ausweisung anknüpfende Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG geht das BVerwG davon aus, dass den Anforderungen des Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG an ein Einhergehen des Einreiseverbots mit einer Rückkehrentscheidung – eine solche stellt nach natinalem Recht die Abschiebungsandrohung und nicht (auch) die Ausweisung dar – auch dann genügt sei, wenn im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder gerichtlichen Entscheidung und vor der tatsächlichen Ausreise bzw. Abschiebung des Ausländers eine asylrechtliche Abschiebungsandrohung des Bundesamts vorliege. Die Befristung des ausländerbehördlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots, das an eine Ausweisung anknüpfe, könne dabei neben eine Befristungsentscheidung des Bundesamts treten und weitere Gesichtspunkte berücksichtigen.
Bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten vorzunehmenden Befristung der Geltungsdauer des ausweisungsbedingten Einreise- und Aufenthaltsverbots müsse die Ausländerbehöde das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedürfe es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liege, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr trage. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist müsse in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG), sowie unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK gemessen und ggf. relativiert werden. Über dieses normative Korrektiv ließen sich auch bei einer Ermessensentscheidung die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen begrenzen.
Hinweis:
Das BVerwG hält nach erneuter Prüfung weiterhin an seiner Auffassung fest, wonach der nationale Gesetzgeber durch die gesetzliche Regelung in § 11 AufenthG und seine Begründungen zu § 11 Abs. 3 S. 2 i.V.m. Abs. 5 S. 1 AufenthG und den entsprechenden Vorgängerregelungen jedenfalls nicht mit der gebotenen Eindeutigkeit habe erkennen lassen, dass er von der Option des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG nicht nur partiell, sondern umfassend Gebrauch habe machen wollen. Es bleibe ihm indes unbenommen, insoweit eine eindeutige Entscheidung zu treffen.