Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. In dem Urt. v. 21.4.2022 (1 C 10.21, InfAuslR 2022, 339 ff.) führt das BVerwG unter Bezugnahme auf die Rspr. des EGMR zunächst aus, dass schlechte humanitäre Bedingungen, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf das Fehlen staatlicher Mittel zum Umgang mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten zurückzuführen seien, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nur in ganz außergewöhnlichen Fällen begründen könnten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprächen. Solche ganz außergewöhnlichen Umstände könnten auch solche sein, die eine Person mit anderen Personen teile, welche Träger des gleichen Merkmals seien oder sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befänden. In einem solchen Fall könne ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausnahmsweise etwa dann vorliegen, wenn die Abschiebung, wenngleich nicht unmittelbar zum Tod des Betroffenen, so doch zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands führte, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssten hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere” aufweisen; diese könne erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern könne, kein Obdach finde oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalte. Für die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse gelten – gerade bei nicht vulnerablen Personen – nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. Das wirtschaftliche Existenzminimum sei immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grds. zumutbar sei, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen könnten. Zu den danach zumutbaren Arbeiten zählten auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gäbe, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprächen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden könnten, selbst wenn diese im Bereich der sog. Schatten- oder Nischenwirtschaft angesiedelt seien. Könnten extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK begründeten, somit durch eigene Handlungen (z.B. den Einsatz der eigenen Arbeitskraft) oder die Inanspruchnahme der Hilfe- oder Unterstützungsleistungen Dritter (seien es private Dritte, seien es nichtstaatliche Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen) abgewendet werden, bestehe schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not, die unter Umständen eine staatliche Schutzpflicht zu (ergänzenden) staatlichen Leistungen auslösen könne.
Neben diesen in der Rechtsprechung des BVerwG als gefestigt anzusehenden rechtlichen Maßstäben präzisiert das Urt. v. 21.4.2022 erstmals den zeitlichen Rahmen, der bei der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellenden Gefahrenprognose in den Blick zu nehmen ist. Danach sei die Gefahr eines ernsthaften Schadenseintritts nicht schon dann gegeben, wenn zu einem beliebigen Zeitpunkt nach der Rückkehr in das Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohe. Maßgeblich sei vielmehr grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, ggf. durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage sei, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend sei hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt sei. Könne der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschlössen, könne Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen sei, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit drohe. Je länger der Zeitraum der durch Rückkehrhilfen abgedeckten Existenzsicherung sei, desto höher müsse die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein.
Hinweis:
Das BVerwG verzichtet i.R.d. erforderlichen Gefahrenprognose nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf die Vorgabe einer starren zeitlichen Höchstgrenze, verlangt aber gleichwohl einen Zurechnungs...