Der Beschwerdeführer (Bf.) der hier zu referierenden Entscheidung bezog Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Durch Bescheide aus dem April 2021 setzte das Jobcenter für einen zurückliegenden Zeitraum Leistungen endgültig fest und machte daneben eine Erstattungsforderung geltend – die auf einem dem Bf. ausbezahlten Betriebskostenguthaben aus einem früheren Kalenderjahr beruhte – und berücksichtigte das Guthaben für den Zeitraum Juni bis November 2020 anteilig leistungsmindernd. Der Bf. beantragte die Bewilligung von Beratungshilfe, zweifelte die Richtigkeit der Bescheide an und wollte für die nähere Gestaltung des Widerspruchs anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen. Er gab gegenüber der Rechtspflegerin des für den Beratungshilfeantrag zuständigen Amtsgerichts einige Gesichtspunkte an, aufgrund derer seiner Meinung nach die Bescheide nicht richtig sein könnten. Der Antrag wurde wegen Mutwilligkeit zurückgewiesen. Nachdem Abhilfe der eingelegten Erinnerung nicht erfolgte, wurde diese ebenso durch richterlichen Beschluss wegen Mutwilligkeit abgewiesen. Außerdem, so das zur Entscheidung über die Erinnerung zuständige Gericht, habe der Bf. nicht vorgetragen, dass er sich schriftlich oder durch Vorsprache beim Jobcenter selbst um eine Aufklärung des Sachverhalts bemüht habe. Nach erfolgloser Anhörungsrüge legte der Bf. Verfassungsbeschwerde ein, die das BVerfG als offensichtlich begründet ansah (BVerfG, stattgebender Kammerbeschl. v. 4.4.2022 – 1 BvR 1370/21, NJW 2022, 1876).

Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Bf. in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit. Das GG verbürgt in Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 u. 3 GG die Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten bei der Durchsetzung ihrer Rechte auch im außergerichtlichen Bereich, somit auch im Hinblick auf die Beratungshilfe nach dem BerHG.

 

Hinweis:

Entsprechender Schutz besteht auch im Gerichtsverfahren: Zur Verletzung des Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit durch Versagung der Prozesskostenhilfe in einem SGG-Verfahren s. BVerfG, stattgebender Kammerbeschl. v. 12.2.2020 – 1 BvR 1246/19, hierzu Neumair jurisPR-SozR 11/2020 Anm. 4.

Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten stellt die Versagung von Beratungshilfe aber dann keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit dar, wenn Bemittelte wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden. Dabei kommt es darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft und ob Rechtssuchende selbst über ausreichende Rechtskenntnisse verfügen. Keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit (hierauf verweist § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG als eine Anspruchsvoraussetzung) ist jedoch die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der den Bescheid erlassenden Behörde.

Das BVerfG bezeichnet zudem die Einschätzung des Amtsgerichts, die vom Bf. beabsichtigte Rechtsverfolgung sei mutwillig (zur Legaldefinition der Mutwilligkeit s. § 1 Abs. 3 BerHG), da er Beratungshilfe wünsche, um Leistungsbescheide pauschal auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen, ohne aber selbst konkrete Fehler darzulegen, zu Recht als nicht nachvollziehbar. Der Bf. hatte solches gerade nicht begehrt, sondern konkret aufgezeigt, worauf sich seine Zweifel an der Richtigkeit der Bescheide bezogen.

 

Hinweis:

Die hier einschlägigen Rechtsfragen hat das BVerfG bereits wiederholt in gleicher Weise wie vorliegend entschieden (s. etwa die Beschlüsse v. 11.5.2009 – 1 BvR 1517/08, v. 6.9.2010 – 1 BvR 440/10 oder v. 7.10.2015 – 1 BvR 1962/11, hierzu Wenner SoSi plus, 1/2016, 1, und ZAP F. 18, S. 1459 f.). Diese und weitere einschlägige Rechtsprechung des BVerfG ist allgemein bekannt, auf sie wird in juristischen Zeitschriften, wie der NJW (z.B. 2009, 3417), und in der einschlägigen Kommentarliteratur hingewiesen (s. etwa Köpf in: Poller/Härtl/Köpf, Gesamtes Kostenhilferecht, 3. Aufl. 2018, § 1 BerHG Rn 82 mit umfangreichen Nachweisen in Fn 88). Es ist bedauerlich, dass Gerichte vereinzelt gleichwohl immer noch zulasten der Betroffenen anders entscheiden, was mit der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar sein dürfte. Ein solches, vom BVerfG beanstandetes Verhalten kann auch nicht unter dem Aspekt richterlicher Unabhängigkeit gerechtfertigt werden: Diese stellt nach allgemeiner Meinung kein Standesprivileg dar, sondern ist verfassungsrechtlich untrennbar verknüpft mit der Bindung an Gesetz und Recht (s. etwa Udsching, BeckOK SozR SGG § 1 Rn 5).

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