Die Klägerin führt einen Rechtsstreit ihres verstorbenen Vaters fort, der nach dem Tod seiner Ehefrau vom beklagten Rentenversicherungsträger eine große Witwerrente (§ 46 Abs. 2 SGB VI) bezogen hatte. Teilweise wurde bei Berechnung der Rente i.R.d. der gesetzlich vorgeschriebenen Einkommensanrechnung (§ 57 SGB VI) zu Unrecht ein nach § 97 Abs. 2 S. 2 SGB VI erhöhter Freibetrag angesetzt. Insoweit hob die Beklagte den Rentenbescheid rückwirkend auf – gestützt zum Teil auf § 48 SGB X, im Übrigen auf § 45 SGB X – und machte eine Erstattungsforderung der teilweise überzahlten Rente nach § 50 Abs. 2 SGB X geltend.
Nach der vom Verstorbenen bei der Beklagten erfolglos beantragten Rücknahme des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X (sog. Zugunsten- oder Überprüfungsverfahren) hat im Klageverfahren das LSG die Klage mit der Begründung abgewiesen, mit dem Vorbringen, unter Vertrauensschutzgesichtspunkten seien ihm die Leistungen vollständig zu belassen, könne der damalige Kläger im Zugunstenverfahren nicht gehört werden. Die Revision war i.S.d. Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung begründet (BSG, Urt. v. 3.2.2022 – B 5 R 26/21 R, hierzu Plagemann FD-SozVR 2022, 450586).
Als einzige Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs kommt § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X in Betracht. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit u.a. dann zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt worden ist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Die Vorschrift ist nach st. Rspr. des BSG zumindest entsprechend heranzuziehen, wenn, wie hier, eine bewilligte und erbrachte Sozialleistung durch einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheids wieder entzogen und zurückgefordert wird (s. Rn 11 des Urt. m.w.N.).
Entscheidungserheblich ist, ob bzw. in welcher Weise die Beklagte das Recht fehlerfrei – oder unrichtig – angewendet hat. Fehlerfrei war die Rechtsanwendung in der Weise, als die aufgehobenen Bescheide insoweit rechtswidrig waren, als bei der Ermittlung der Höhe der Witwerrente ein zu hoher Einkommensfreibetrag angesetzt worden war. Die Klägerin stellt auch nicht in Abrede, dass sie zu viel an Rente erhalten hatte.
Die Beklagte hat jedoch, so das BSG, Recht insoweit unrichtig angewandt, als sie die vertrauensschützenden Regelungen in den §§ 45, 48 SGB X nicht beachtet hat. Der Maßstab, nach dem sich eine i.S.d. § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X unrichtige Anwendung des Rechts beurteilt, ist nicht allein dem materiellen Leistungsrecht zu entnehmen. Heranzuziehen sind verfahrensrechtlich jedenfalls auch die gesetzlichen Vorgaben in den §§ 45, 48 SGB X zum Vertrauensschutz.
Das Gebot des Vertrauensschutzes ist durch das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Grundrechte (etwa Art. 2 Abs. 1 GG) verbürgt (s. nur BVerfG, Beschl. v. 30.6.2020 – 1 BvR 1679/17 u.a., juris Rn 122 m.w.N.) und wird in den §§ 45, 48 SGB X für den Bereich des Sozialrechts konkretisiert. Im Einklang mit der früheren Rechtsprechung verschiedener Senate des BSG (s. hierzu die Angaben in Rn 16 und 17) entscheidet das Gericht, mit Erlass eines gegen die Vertrauensschutzregelungen in den §§ 45, 48 SGB X verstoßenden Aufhebungs- und Erstattungsbescheids werde das Recht i.S.d. § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X unrichtig angewandt, was im Zugunstenverfahren zu berücksichtigen sei. Es stellt insoweit auf den Wortlaut der Norm ab, auf systematische Erwägungen, die Gesetzesmaterialien und den Sinn und Zweck des § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X: Dieser verschafft dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns (Art. 20 Abs. 3 GG) in besonderem Maße Geltung, indem die Vorschrift der Verwaltungsbehörde auf dem Gebiet des Sozialrechts die Möglichkeit eröffnet, fehlerhaft erlassene Verwaltungsakte auch noch nach Ablauf der Rechtsbehelfsfristen zu berücksichtigen. Dem liegt der Restitutionsgedanke zugrunde.
Das LSG hatte, von seinem Standpunkt aus folgerichtig, keine weitergehenden Feststellungen dazu getroffen, ob die angegriffenen Bescheide gegen die Vertrauensschutzregelungen in § 45 bzw. § 48 SGB X verstießen. Die Zurückverweisung erfolgte, damit entsprechende Feststellungen vom LSG nachgeholt werden können.
ZAP F. 18, S. 1045–1064
Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht und für Arbeitsrecht Dr. Ulrich Sartorius, Breisach und Prof. Dr. Jürgen Winkler, Katholische Hochschule Freiburg