In rechtspolitischer Hinsicht und gerade mit Blick auf die anwaltliche Leserschaft ist hier auf das aktuelle BMJ-Vorhaben eines „Gesetzes zur Einführung eines Leitsatzentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof” in der jüngsten Gestalt des RegE v. 16.8.2023 hinzuweisen (s. noch zur bisher unberücksichtigten Kritik am RefE von Rechtspraxis und -wissenschaft z.B. die Stellungnahme N. Fischer v. 31.7.2023, unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/2023_Leitentscheidungsverfahren.html?nn=110490 ). Die damit verbundenen ZPO-Änderungen werden nach Verabschiedung große Relevanz für die zivilprozessuale Praxis haben. Unter Berücksichtigung rechtspraktischer, rechtswissenschaftlicher und rechtspolitischer Aspekte existiert für dieses Gesetzesvorhaben zum einen kein rechtstatsächliches Bedürfnis (s. III.1.), zum anderen bestehen dagegen erhebliche Bedenken aus prozessrechts- und verfassungsrechtlicher (s. III.2.) Sicht (s. III.3.).
1. Geplantes Leitsatzentscheidungsverfahren als Lösung des rechtstatsächlichen Phänomens „Massenverfahren”?
Das Gesetzesvorhaben zielt darauf ab, eine Entlastung der Instanzgerichte zu erwirken, welche aufgrund des Fehlens höchstrichterlicher Rechtsauffassungen zu bestimmten revisionsrelevanten Rechtsfragen i.S.v. § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO mit einer Vielzahl von gerichtlichen Verfahren befasst sind.
Hierfür stellt der RegE (s.a. die BMJ-PM v. 16.8.2023) auf sog. Massenverfahren ab, wofür Flugverspätungen, unzulässige Kontogebühren oder mangelhafte Produktserien angeführt werden. Dabei wird deutlich, dass v.a. die „Klagewelle” und „Rechtsmittelflut” aus den sog. Dieselskandal-Fällen den (Einzelfall-)Anlass für diese Gesetzesnovelle geboten haben: Im Zuge des sog. Dieselskandals war v.a. das LG Stuttgart mit zehntausenden Klagen von Automobilherstellern getäuschter privater Kfz-Käufer (i.d.R. Verbraucher i.S.v. § 13 BGB) „überschwemmt” worden. Nicht unrealistisch ist daher, dass die hier besprochenen BGH-Urteile v. 26.6.2023 eine erneute „Klageflut” aufkommen lassen könnten (s. auch ZAP 2023, 573). Die Reformpläne wenden sich im Ergebnis gegen die nach allgemeinen Grundsätzen (des Rechtsmittelrechts) der ZPO bestehende Möglichkeit, Revisionsverfahren auch ohne Richterspruch zu beenden. Während bei bisherigen ZPO-Reformen der Grundsatz „Schlichten statt Richten” leitend war (man denke insb. an die i.R.d. ZPO-RG zum 1.1.2002 eingeführte obligatorische innergerichtliche Güteverhandlung nach § 278 Abs. 2 ZPO, s. u.a. Fischer/Schmidtbleicher, AnwBl 2005, 233 m.w.N.), scheint nunmehr eine Reformprägung im Sinne eines „Richtens statt Schlichtens” (mittels leitsatzweisen höchstrichterlichen Votums) zu bestehen. Ausweislich der Begründung des RegE (vgl. dort auf S. 1) besteht offenbar die (Reform-)Vorstellung, dass in den sog. Dieselfällen überwiegend die gleichen entscheidungserheblichen (offenen) Rechtsfragen bestehen. Würden diese Rechtsfragen durch den BGH höchstrichterlich geklärt, so könnten parallele Verfahren mit vergleichbarem Inhalt, die bei den Instanzgerichten noch anhängig sind, anhand einer solchen höchstrichterlichen „Leitsatzentscheidung” rasch entschieden werden. Das Hauptargument für das Gesetzesvorhaben stellt dabei die Überlegung dar, dass etwa durch Rücknahme von Revisionen BGH-Entscheidungen „aus prozesstaktischen Gründen oder aufgrund eines Vergleichs” (so wörtlich die Begründung des RegE auf S. 8 im ersten Absatz) von den Parteien bewusst verhindert werden – mit nachteiligen Folgen für die Klärung einer grundsätzlichen Rechtssache, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (vgl. § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO, s. dazu N. Fischer, Zivilverfahrens- und Verfassungsrecht, 2002, S. 26 f., 40 ff., jew. m.w.N.). Daher sollen die Zivilsenate des BGH nunmehr die Befugnis erhalten, bei (von diesen selbst) ausgewählten Verfahren auch dann deren (materielles) Ergebnis mitzuteilen, wenn eine Entscheidung in der Sache oder zumindest zu den Kosten, welche die revisionsrechtlich maßgebliche Frage des Rechtsstreits zum Inhalt hat, nicht mehr möglich ist.
Erhebliche grundsätzliche Bedenken folgen schon aus der mangelnden Notwendigkeit des Gesetzesvorhabens. Bereits in Ermangelung rechtstatsächlicher Befunde zu dem Sozialphänomen „Massenverfahren” in der Prozessrealität (und zu dessen effizienten prozessualen Bewältigungsstrategien) ist fraglich, ob wirklich ein Erfordernis besteht, ein solches „Leitsatzentscheidungsverfahren” normativ zu regeln. Dies gilt ganz abgesehen davon, dass punktuelle Anlässe, wie der „Dieselskandal”, der erst (ab) September 2015 durch US-Behörden aufgedeckt wurde, generell keinen Grund für die Legislative darstellen sollten, ohne gesicherte empirische Erkenntnisse kurzfristig prozessrechtsdogmatische Neuerungen einzuführen, die die Basis der geltenden Rechtsmittelsystematik verlassen. Bekanntlich haben die erkennenden (Zivil-)Senate des BGH bereits derzeit vielfältige Möglichkeiten, die dort vertretenen (teilweise zu denselben Rechtsfragen auch unterschiedlichen) Rechtsauffassungen in Revisionsverfahren kundzutun und den Pr...