Versorgung mit medizinischem Cannabis in der gesetzlichen Krankenversicherung
Mit Wirkung ab 10.3.2017 hat der Gesetzgeber § 31 SGB V um einen Abs. 6 ergänzt. Hiernach (s. Abs. 1 S. 1) haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn
eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) |
nicht zur Verfügung steht oder |
b) |
im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Ärzte unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, |
- eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Nach S. 2 der Norm bedarf die Leistung bei der ersten Verordnung für Versicherte der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse (KK), die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
Die Voraussetzungen dieses Anspruchs waren bislang v.a. Gegenstand von Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes. Am 10.11.2022 hat nunmehr der Erste Senat des BSG erstmals in vier Verfahren über die Voraussetzungen dieses Anspruchs entschieden und hierbei recht hohe Hürden für die Inanspruchnahme errichtet (zu den Entscheidungen ausführlich Knispel, NZS 2023, 327).
Das Gericht hat dem Terminbericht vom 11.11.2022 die in den vier Urteilen niedergelegten Voraussetzungen der Genehmigung vertragsärztlicher Verordnung von Cannabis-Blüten durch die KKen gem. § 31 Abs. 6 SGB V in sechs Punkten vorangestellt:
- Für die Erteilung der Genehmigung einer Cannabis-Verordnung reicht es aus, dass Vertragsärzte der KK den Inhalt der geplanten Verordnung (hierzu gehört nach § 9 Abs. 1 Nr. 3–5 BtMVV die Arzneimittelbezeichnung, die Verordnungsmenge und die Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesdosis und Anwendungsform) mitteilen oder der Versicherte der KK eine entsprechende Erklärung des Vertragsarzts übermittelt. Die Vorlage einer bereits vom Arzt ausgestellten Verordnung ist nicht erforderlich.
- Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Entscheidend sind Funktionsstörungen und -verluste, Schmerzen, Schwäche und Hilfebedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens, welche die Lebensqualität beeinträchtigen. In der Regel liegt eine schwerwiegende Erkrankung vor, wenn sich aus den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen ein GdB/GdS von 50 ableiten lässt, der nicht formell festgestellt sein muss.
- Eine Standardtherapie steht nicht zur Verfügung (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. a SGB V), wenn (a) sie es generell nicht gibt, (b) sie im konkreten Fall ausscheidet, weil die Versicherten diese nachgewiesener Maßen nicht vertragen oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen oder (c) diese trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf die beim Patienten angestrebten Behandlungsziele ohne Erfolg geblieben ist.
- Bei der für den Anspruch erforderliche positive Prognose muss sich die Erfolgsaussicht auf die ursächliche Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung oder auf besonders schwere Symptome bzw. Auswirkungen der schwerwiegenden Erkrankung oder Erkrankungen beziehen. An die Prognose sind keine hohen Anforderungen zu stellen.
- Für die dann, wenn die vorgenannten Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, nur in begründeten Ausnahmefällen bestehende Befugnis der KK, die Genehmigung der Verordnung zu verweigern, ist diese darlegungs- und beweispflichtig (hinsichtl. der objektiven, materiellen Beweislast, s. etwa M-L/K/L/S/Schmidt [nachfolgend M-L/K/L/S/Bearb.], SGG, § 103, Rn 19, 19a). Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative zur Unanwendbarkeit einer Standardtherapie darf hierbei nicht unterlaufen werden.
- Bei der Auswahl der Darreichungsform oder Verordnungsmenge hat der Vertragsarzt das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 SGB V) zu beachten.
Eine der Revisionen, BSG, Urt. v. 10.11.2022 – B 1 KR 28/21 R, war i.S.d. Aufhebung und Zurückverweisung erfolgreich (a.a.O., 2023, NJW 2023, 2217, hierzu Schäfer-Kuczynski, FD-SozVR 2023, 456046). In diesem konkreten Fall war die Cannabis-Behandlung wegen einer ADHS-Erkrankung (zur Schwere der Beeinträchtigung durch ADHS s. VersMed-Grundsätze – Anl. zu § 2 der Versorgungsmedizin-VO, Teil B Nr. 3.5.2) vorgesehen. Die weiteren Revisionen blieben erfolglos (BSG, Urt. v. 10.11.2022 – B 1 KR 9/22 R, hierzu Knispel, NZS 2023, 348 u. Pitz, JM 2023, 366; B 1 KR 9/22 R und B 1 KR 21/21 R).