aa) Verstöße
Die Pflicht, beim Überholen einer Kolonne im Falle einer sich auftuenden Lücke wegen des dann häufig zu gewärtigenden Querverkehrs besonders besonnen und rücksichtsvoll zu fahren und nicht auf die Einhaltung der eigenen Vorfahrt zu vertrauen (sog. Lückenrechtsprechung), besteht nicht im Fall des bloßen Vorbeifahrens an einem in zweiter Reihe vor einer Grundstückseinfahrt stehenden Lkw (BGH, NJW 2024, 2616 = DAR 2024, 503 m. Anm. Nugel = zfs 2024, 494). Das Überholen einer Kolonne ist grds. zulässig. Ein Idealfahrer unterlässt jedoch ein Kolonnenspringen, sodass ein Unfall dabei regelmäßig nicht unvermeidbar ist. Dies gilt erst recht auf einer eher schmalen (hier: nur knapp fünf Meter breiten) und kurvigen Straße, ohne Mittellinie und ohne Bankett mit einem breiten Fahrzeug (LG Ellwangen, Urt. v. 20.3.2024 – 1 S 70/23, NJW-RR 2024, 960 = zfs 2024, 380).
Muss ein Fahrzeugführer auf einer zweispurigen Autobahn aufgrund einer Einengungstafel von der linken auf die rechte Spur wechseln, muss er nach § 7 Abs. 5 StVO trotz nach § 7 Abs. 4 StVO geltenden Reißverschlussverfahrens eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer in der rechten Spur ausschließen. Der nachfolgende Fahrzeugführer auf der rechten Spur muss sich zugleich im Einzelfall bei hinreichender Erkennbarkeit des anstehenden Spurwechsel Verstöße gegen § 7 Abs. 4 StVO, § 3 Abs. 1 S. 2 StVO und gegen § 1 Abs. 2 StVO entgegenhalten lassen, die eine Haftungsteilung rechtfertigen können (OLG Hamm, Urt. v. 19.9.2023 – 7 U 99/22, zfs 2024, 443). Schwenkt beim Rechtsabbiegen eines Lang-Lkws die linke vordere Ecke seines Anhängers um ca. einen Meter nach links in die fremde Fahrbahn aus und kann der Fahrer den hierdurch gefährdeten Verkehrsraum nicht beobachten, muss sich der Fahrer von einer anderen Person einweisen lassen (OLG Stuttgart, Urt. v. 11.4.2024 – 2 U 176/22, NJW 2024, 2404 = zfs 2024, 317).
Die Verletzung des Vorfahrtsrechts durch den Einfahrenden indiziert sein Verschulden. Wahrt der Einfahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs nicht und kommt es deshalb zu einem Unfall, hat er i.d.R., wenn keine Besonderheiten vorliegen, in vollem Umfang oder doch zum größten Teil für die Unfallfolgen zu haften. Demgegenüber darf der sich im fließenden Verkehr bewegende Vorfahrtsberechtigte darauf vertrauen, dass der Einbiegende sein Vorrecht beachten werde (AG Bremerhaven, Urt. v. 25.4.2024 – 52 C 1266/23, DAR 2024, 453 m. Anm. Riemer). Wer über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn einfahren will, hat sich dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist, § 10 S. 1 StVO. Das Vorfahrtrecht auf der Straße gilt grds. für die gesamte Fahrbahn. Der Wartepflichtige hat keinen Anspruch darauf, dass der Vorfahrtberechtigte auf einer mehrspurigen Richtungsfahrbahn seinen Fahrstreifen beibehält, da § 7 Abs. 5 StVO nur den gleichgerichteten und nicht auch den einmündenden Verkehr schützt (LG Bremen, Urt. v. 28.11.2023 – 7O 919/22, NZV 2024, 346 [Bachmor]; zu den Sonderrechten nach §§ 35, 38 LG Hamburg, Urt. v. 14.12.2023 – 323 O 206/22, NZV 2024, 399 [Bachmor]; auch OLG Schleswig, Beschl. v. 4.1.2024 – 7 U 141/23, NJW-RR 2024, 581).
Zwar darf ein Kfz-Führer nach § 20 Abs. 1 StVO im Gegenverkehr an sich vorsichtig an einem noch haltenden Bus vorbeifahren, muss sich dabei aber im Einzelfall – wie hier im Hinblick auf eine erkennbare Vielzahl von aussteigenden Kindern – nach § 3 Abs. 2a StVO so verhalten, dass eine Gefährdung eines plötzlich hinter dem Bus auf die Fahrbahn tretenden Kindes ausgeschlossen ist; dazu muss der Kfz-Führer die Geschwindigkeit im Zweifel so weit drosseln, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen bringen kann (OLG Hamm, Beschl. v. 27.2.2024 – I-7 U 120/22, NJW-RR 2024, 894).
Kommt es auf einem Parkplatz zur Kollision zwischen einem rückwärts in der Fahrgasse fahrenden Pkw und einem zwecks Korrektur seines Einparkvorgangs vorwärts aus einer Parkbox rangierenden Fahrzeug, haftet der rückwärtsfahrende Verkehrsteilnehmer überwiegend (75 %), wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass das andere Fahrzeug im Zeitpunkt des Zusammenstoßes bereits stand und die Rückwärtsfahrt darüber hinaus oberhalb der Schrittgeschwindigkeit vorgenommen wurde (LG Kiel, Beschl. v. 29.6.2023 – 1 S 119/21, NZV 2024, 400 [Bachmor]).
bb) Quotenbildung und Mitverschulden
Wer an einem stehenden Fahrzeug vorbeifährt, muss nach dem allgemeinen Gebot der Gefährdungsvermeidung aus § 1 Abs. 2 StVO einen angemessenen Seitenabstand einhalten. Grundsätzlich reicht zwar ein Seitenabstand von ca. 50 cm eines vorbeifahrenden Pkw zu einem geparkten Pkw aus. Ein Seitenabstand von unter 1 m genügt jedoch dann nicht, wenn auf dem Seitenstreifen neben der Fahrbahn ein Pkw mit geöffneter Fahrzeugtür steht und jederzeit mit einem weiteren Öffnen der Tür gerechnet werden muss oder in der geöffneten Fahrzeugtür eine Person steht (LG Saarbrücken, Urt. v. 15.2.2024 – 13 S 28/23, NJW-RR 2024, 706 und 708 = DAR 2024, 164). Ob ein Fahrzeugführer gem. § 1 Abs. 2 StVO ...