1. Die Betriebsgefahr (§ 7 StVG)
Die Gefahr, die von einer gerade entleerten Mülltonne auf der Straße für andere Verkehrsteilnehmer ausgeht, ist dem Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs zuzurechnen (BGH, Urt. v. 12.12.2023 – VI ZR 77/23, NJW 2024, 898 = DAR 2024, 147 m. Anm. Nugel = VRR 4/2024, 12 [Nugel]). Der BGH hat seine bereits zuvor geäußerte Haltung (Urt. v. 18.7.2023 – VI ZR 16/23, NZV 2024, 76 m. Anm. Biller-Bomhardt = DAR 2023, 685 = VRR 1/2024, 11 [Nugel]) zur Haftung des Halters eines Kfz mit Arbeitsfunktion nach § 7 Abs. 1 StVG (Kontaminierung von Trauben durch Austritt von Hydrauliköl aus einem Traubenvollernter bei der Ernte) bekräftigt (Urt. v. 27.2.2024 – VI ZR 80/23, NJW-RR 2024, 712). Es gibt keinen Anscheinsbeweis dahingehend, dass das nächtliche Inbrandgeraten eines Fahrzeugs auf einem technischen Defekt beruht (BGH, Urt. v. 12.12.2023 – VI ZR 76/23, NJW 2024, 1037 = DAR 2024, 150 = VRR 6/2024, 9 [Nugel]). Es ist nicht der Betriebsgefahr i.S.d. § 7 Abs. 1 StVG eines Tanklastwagens zuzurechnen, wenn sich ein eigenständiger Gefahrenkreis aus der Risikosphäre des Bestellers verwirklicht (hier: fehlerhafte Füllstandsanzeige am Tank) und der Schadenseintritt beim Befüllvorgang weder auf ein Verschulden des Tanklastwagenfahrers noch auf einen Defekt des Tanklastwagens oder seiner Einrichtungen zurückzuführen ist (OLG Celle, Urt. v. 15.11.2023 – 14 U 56/23, VRS 146, 145 = VRR 4/2024, 14 [Nugel]; s. auch BGH, zfs 2024, 210 = VRR 9/2024, 18 [Nugel]). Schleudert ein Mäh-Traktor entlang eines Straßenbanketts beim Mähen Steine auf, die einen Motorradfahrer verletzen, ist der Schaden beim Betrieb eines Kfz entstanden, sodass der Halter vollständig haftet (OLG München, Urt. v. 31.1.2024 – 10 U 683/23 e, DAR 2024, 260 = NJW-RR 2024, 710).
Greift ein Beifahrer in das Lenkrad, so haftet ein Pkw-Halter nicht aus § 7 StVG gegenüber dem verletzten Beifahrer, da die Haftung gem. § 8 Nr. 2 StVG ausgeschlossen ist. Für eine Teilnahme des Beifahrers am Betrieb genügt es grds., wenn dieser den maschinellen Fahrtablauf mitbestimmt, etwa indem er in das Lenkrad greift oder die Gangschaltung betätigt (LG Memmingen, Endurt. v. 15.9.2023 – 32 O 1552/22, DAR 2024, 221).
2. Verstöße, Haftungsverteilung und Mitverschulden (§§ 9, 17 StVG, § 254 BGB)
a) Kollisionen von Kfz
aa) Verstöße
Die Pflicht, beim Überholen einer Kolonne im Falle einer sich auftuenden Lücke wegen des dann häufig zu gewärtigenden Querverkehrs besonders besonnen und rücksichtsvoll zu fahren und nicht auf die Einhaltung der eigenen Vorfahrt zu vertrauen (sog. Lückenrechtsprechung), besteht nicht im Fall des bloßen Vorbeifahrens an einem in zweiter Reihe vor einer Grundstückseinfahrt stehenden Lkw (BGH, NJW 2024, 2616 = DAR 2024, 503 m. Anm. Nugel = zfs 2024, 494). Das Überholen einer Kolonne ist grds. zulässig. Ein Idealfahrer unterlässt jedoch ein Kolonnenspringen, sodass ein Unfall dabei regelmäßig nicht unvermeidbar ist. Dies gilt erst recht auf einer eher schmalen (hier: nur knapp fünf Meter breiten) und kurvigen Straße, ohne Mittellinie und ohne Bankett mit einem breiten Fahrzeug (LG Ellwangen, Urt. v. 20.3.2024 – 1 S 70/23, NJW-RR 2024, 960 = zfs 2024, 380).
Muss ein Fahrzeugführer auf einer zweispurigen Autobahn aufgrund einer Einengungstafel von der linken auf die rechte Spur wechseln, muss er nach § 7 Abs. 5 StVO trotz nach § 7 Abs. 4 StVO geltenden Reißverschlussverfahrens eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer in der rechten Spur ausschließen. Der nachfolgende Fahrzeugführer auf der rechten Spur muss sich zugleich im Einzelfall bei hinreichender Erkennbarkeit des anstehenden Spurwechsel Verstöße gegen § 7 Abs. 4 StVO, § 3 Abs. 1 S. 2 StVO und gegen § 1 Abs. 2 StVO entgegenhalten lassen, die eine Haftungsteilung rechtfertigen können (OLG Hamm, Urt. v. 19.9.2023 – 7 U 99/22, zfs 2024, 443). Schwenkt beim Rechtsabbiegen eines Lang-Lkws die linke vordere Ecke seines Anhängers um ca. einen Meter nach links in die fremde Fahrbahn aus und kann der Fahrer den hierdurch gefährdeten Verkehrsraum nicht beobachten, muss sich der Fahrer von einer anderen Person einweisen lassen (OLG Stuttgart, Urt. v. 11.4.2024 – 2 U 176/22, NJW 2024, 2404 = zfs 2024, 317).
Die Verletzung des Vorfahrtsrechts durch den Einfahrenden indiziert sein Verschulden. Wahrt der Einfahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs nicht und kommt es deshalb zu einem Unfall, hat er i.d.R., wenn keine Besonderheiten vorliegen, in vollem Umfang oder doch zum größten Teil für die Unfallfolgen zu haften. Demgegenüber darf der sich im fließenden Verkehr bewegende Vorfahrtsberechtigte darauf vertrauen, dass der Einbiegende sein Vorrecht beachten werde (AG Bremerhaven, Urt. v. 25.4.2024 – 52 C 1266/23, DAR 2024, 453 m. Anm. Riemer). Wer über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn einfahren will, hat sich dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist, § 10 S. 1 StVO. Das Vorfahrtrecht auf der Straße gilt grds. für die gesamte Fahrbahn. Der Wartepflichtige hat keinen Anspruch darauf, dass der Vorfahrtberechtigte auf einer mehrspurigen Richtungsfahrbahn seinen Fahrstreifen beibehält...