I. Einschlägige Vorschriften
Welche Vorschrift für die Haftungsabwägung maßgeblich ist, richtet sich danach, zwischen welchen Verkehrsteilnehmern sich der Unfall ereignet hat:
- Unfall zwischen Kraftfahrzeugen: § 17 StVG;
- Unfall zwischen Kraftfahrzeug und Eisenbahn bzw. Straßenbahn: § 17 Abs. 4 StVG, § 13 Abs. 4 HPflG;
- Unfall zwischen Kraftfahrzeug und Fußgänger: § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB; bei minderjährigen Fußgängern ist § 828 Abs. 1 bis 3 BGB zu beachten;
- Unfall zwischen Kraftfahrzeug und Radfahrer: § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB; bei minderjährigen Radfahrern ist § 828 Abs. 1 bis 3 BGB zu beachten;
- Unfall eines Kraftfahrzeugs infolge Verletzung der einem anderen obliegenden Verkehrssicherungspflicht: § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB;
- Unfall zwischen Radfahrern: § 254 BGB.
Die Vorschriften des § 17 StVG und des § 9 StVG bzw. § 254 BGB stellen keine haftungsbegründenden Normen dar, so dass vor der Haftungsabwägung stets festzustellen ist, ob beiden Unfallbeteiligten gegenüber dem jeweils anderen kraft Gesetzes ein Ersatzanspruch zusteht (§§ 7, 18 StVG, § 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. den Geboten und Verboten der StVO; § 839 BGB etc.; s. hierzu Grüneberg ZAP F. 9, S. 999 ff.). Bevor eine Haftungsverteilung nach § 17 StVG erfolgt, ist bei einem Unfall zwischen zwei Kraftfahrzeugen (A und B) deshalb die folgende Prüfungsreihenfolge zu beachten:
Checkliste zur Haftungsverteilung:
1. |
Liegen in Bezug auf A die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 StVG vor?
□ |
Wenn nein: keine Haftung des A. |
□ |
Wenn ja: siehe 2. |
|
2. |
Liegen in Bezug auf A die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 StVG (höhere Gewalt) oder des § 17 Abs. 3 StVG (unabwendbares Ereignis) vor?
□ |
Wenn ja: keine Haftung des A. |
□ |
Wenn nein: siehe 3. |
|
3. |
Liegen in Bezug auf B die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 StVG vor?
□ |
Wenn nein: volle Haftung des A. |
□ |
Wenn ja: siehe 4. |
|
4. |
Liegen in Bezug auf B die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 StVG (höhere Gewalt) oder des § 17 Abs. 3 StVG (unabwendbares Ereignis) vor?
□ |
Wenn ja: volle Haftung des A. |
□ |
Wenn nein: siehe 5. |
|
5. |
Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 2 StVG. |
§ 17 StVG bezieht sich nach seinem Wortlaut auf alle Ansprüche kraft Gesetzes. Er gilt daher auch für alle (konkurrierenden) deliktischen Ansprüche und unabhängig von den Haftungshöchstgrenzen der §§ 12, 12a StVG. § 17 StVG ist lex specialis gegenüber § 254 BGB und damit die Zentralnorm der Haftungsverteilung im Straßenverkehrsrecht. § 254 BGB wird also im Anwendungsbereich des § 17 StVG auch dann verdrängt, wenn lediglich deliktische Ansprüche geltend gemacht werden (BGH NZV 1994, 146). Allerdings bleibt die Schadensminderungspflicht des § 254 Abs. 2 BGB zu beachten, was vor allem bei der Schadenshöhe bedeutsam sein kann (z.B. Pflicht zur Umschulung bei unfallursächlich eingetretener Berufsunfähigkeit in der bisher ausgeübten Beschäftigung). Ansprüche aus Vertrag (z.B. Arbeitsvertrag, Beförderungsvertrag) fallen dagegen nicht unter § 17 StVG. Die Norm des § 17 StVG ist in folgenden Fällen anwendbar:
- Mindestens zwei in Betrieb befindliche Kraftfahrzeuge verursachen bei einem oder mehreren Haltern anderer Kraftfahrzeuge Sach- oder Personenschäden (§ 17 Abs. 1 StVG).
- Mindestens zwei in Betrieb befindliche Kraftfahrzeuge verursachen bei einer Person, die nicht als Kraftfahrzeughalter in Erscheinung tritt, einen Sach- oder Personenschaden (§ 17 Abs. 1 StVG).
- Mindestens zwei in Betrieb befindliche Kraftfahrzeuge verursachen bei einem oder mehreren Haltern dieser Kraftfahrzeuge Sach- oder Personenschäden (§ 17 Abs. 2 StVG).
- Ein Schaden wird durch mindestens ein Kraftfahrzeug und einen Anhänger verursacht (§ 17 Abs. 4 StVG).
- Ein Schaden wird durch mindestens ein Kraftfahrzeug und ein Tier verursacht (§ 17 Abs. 4 StVG).
- Ein Schaden wird durch mindestens ein Kraftfahrzeug und eine Eisenbahn verursacht (§ 17 Abs. 4 StVG).
In allen anderen Fällen greift als Abwägungsnorm § 254 BGB (über § 9 StVG) oder § 13 Abs. 4 HPflG (bei Unfällen mit einer Straßenbahn) ein. Es ist allerdings zu beachten, dass auch bei einer Abwägung nach § 254 BGB hinsichtlich der Beteiligung eines Kraftfahrzeug die (verschuldensunabhängige) Gefährdungshaftung, also die sog. Betriebsgefahr, voll zu berücksichtigen ist (BGHZ 20, 259, 262 = NJW 1956, 1067; BGHZ 26, 69, 75 = NJW 1958, 341); insoweit spricht man deshalb bei § 254 BGB statt von Mitverschulden (so an sich der Gesetzeswortlaut) von Mithaftung. Lediglich der Kfz-Eigentümer, der nicht zugleich Halter ist, muss sich die Betriebsgefahr nicht zurechnen lassen (BGHZ 173, 182 = NJW 2007, 3120; BGH NJW 2017, 2352). Darüber hinaus liegt ein Verschulden i.S.d. § 254 BGB nicht nur dann vor, wenn jemand in vorwerfbarer und rechtswidriger Weise eine normierte Rechtspflicht verletzt, sondern auch in den Fällen des sog. Verschuldens gegen sich selbst, also insbesondere bei Verletzung einer Obliegenheit (BGHZ 9, 316 = NJW 1953, 977; BGHZ 34, 355 = NJW 1961, 655). Das Abwägungsergebnis wird sich daher i.d.R. von dem des § 17 StVG nicht unterscheiden.
Hinweis:
Für die Prüfungsreihenfolge gilt die obige Check...