I. Anwesenheitspflicht des Betroffenen
Die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung des Bußgeldverfahrens nach dem OWiG richtet sich nach § 73 OWiG. Danach gilt – ebenso wie für die Hauptverhandlung des Strafverfahrens – auch in der Hauptverhandlung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens (OWi-Verfahren) für den Betroffenen eine Anwesenheitspflicht (vgl. zum Strafverfahren Burhoff ZAP F. 22, S. 939). Das Gesetz verlangt grundsätzlich, dass der Betroffene während der gesamten Dauer der Hauptverhandlung anwesend ist. Mit dieser Anwesenheitspflicht korrespondiert das Recht des Betroffenen auf Teilnahme an der Hauptverhandlung als Ausprägung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (OLG Jena zfs 2010, 109 ff. = VRS 117, 342). § 231 StPO gilt im Bußgeldverfahren i.Ü. nicht (OLG Bamberg VRR 2012, 276).
II. Entbindung des Betroffenen von der Anwesenheitspflicht
1. Allgemeines
Zwar besteht gem. § 73 Abs. 1 OWiG die Pflicht des Betroffenen, in der Hauptverhandlung zu erscheinen (zur Anwesenheitspflicht ausländischer "Verkehrssünder" s. Mitsch ZIS 2011, 502). Nach § 73 Abs. 2 OWiG ist das Gericht aber verpflichtet, den Betroffenen auf seinen Antrag hin von dieser Verpflichtung zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert hat oder erklärt, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist (vgl. dazu unten II. 5.; wegen weiterer Einzelheiten s. auch Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2019, Rn 1393 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, EV]; Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019, Rn 1389 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, HV]; Stephan/Niehaus, in: Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. 2018, Rn 2351 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff/Bearbeiter, OWi]).
Das Gericht darf den Betroffenen nicht ohne Antrag des Verteidigers vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbinden und dann ohne ihn verhandeln (BayObLG NStZ-RR 2000, 149; 2005, 82). Es kann auch nicht einen Verlegungsantrag in einen Entbindungsantrag umdeuten, da mit diesem gerade nicht zum Ausdruck gebracht werden soll, dass der Betroffene nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen will (OLG Hamm VRS 108, 274). Hat der Betroffene einen Entbindungsantrag nicht gestellt, wird er aber dennoch von der Anwesenheitspflicht entbunden, darf eine Abwesenheitsverhandlung nicht stattfinden (OLG Jena zfs 2006, 348). Stellt der Betroffene allerdings nach einem Antrag auf Terminsverlegung wegen Krankheit einen Antrag auf Entbindung von der Pflicht zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung, überholt sich der Antrag auf Terminsverlegung (Fall der Erledigung), so dass das Amtsgericht (AG) nur noch über den Antrag auf Entbindung von der Anwesenheitspflicht zu entscheiden und ggf. ohne den Betroffenen die Hauptverhandlung durchzuführen hat (OLG Brandenburg VRR 2014, 443 [Ls.]).
2. Ermessen des Gerichts?
Liegen die Voraussetzungen für die Entbindung vor (vgl. II. 5.), muss das AG den Betroffenen von der Anwesenheitspflicht entbinden. Das AG hat in dieser Frage kein Ermessen (so schon BayObLG DAR 2001, 371; st. OLG-Rspr., vgl. aus neuerer Zeit KG VRS 113, 63; NStZ 2011, 584; VA 2017, 50; OLG Bamberg DAR 2013, 90; NZV 2013, 612; VRR 2013, 350; OLG Düsseldorf VA 2016, 176; OLG Hamburg, Beschl. v. 5.3.2018 – 6 RB 3/18; OLG Hamm DAR 2016, 595; OLG Jena, Beschl. v. 30.6.2009 – 1 Ss 78/09; OLG Karlsruhe StraFo 2010, 494; VA 2016, 176; OLG Köln StraFo 2009, 76 m.w.N.; NZV 2013, 50; OLG Naumburg VA 2015, 195; s. weitere Nachweise bei Burhoff/Stephan/Niehaus, OWi, Rn 2435; Seitz/Bauer, in: Göhler, OWiG, 17. Aufl. 2017, § 73 Rn 5 [im Folgenden kurz: Göhler/Bearbeiter]).
Hinweis:
Die Ablehnung des Entbindungsantrags ohne nachvollziehbare Gründe verletzt den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör und kann/muss mit der Rechtsbeschwerde geltend gemacht werden, und zwar mit der Verfahrensrüge (st. OLG-Rspr., vgl. u.a. OLG Bamberg zfs 2008, 413 m.w.N.; OLG Dresden NZV 2013, 613; OLG Köln zfs 2004, 335; OLG Rostock, Beschl. v. 27.4.2011 – Ss OWi 50/11 I 63/11; Burhoff VRR 2007, 250, 255; Krenberger zfs 2013, 374; Burhoff/Stephan/Niehaus, OWi, Rn 2439 f.; Burhoff/Junker, OWi, Rn 3069). Zulässig ist über § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG die Rechtsbeschwerde, dann ggf. auch im sog. zulassungsfreien Raum.
Besteht der Richter trotz eines begründeten Entbindungsantrags auf das Erscheinen des Betroffenen in der Hauptverhandlung, kann das die Besorgnis der Befangenheit begründen (AG Fulda StRR 2011, 401; AG Recklinghausen StRR 2010, 363 [Ls.]; s. auch Burhoff, HV, Rn 104).
3. Zeitpunkt der Antragstellung
Der Antrag auf Entbindung des Betroffenen von der Erscheinenspflicht in der Hauptverhandlung kann frühestens zusammen mit der Einlegung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid wirksam gestellt werden (OLG Bamberg StraFo 2016, 348). Ein Antrag des Betroffenen hat nur Wirkung für die konkret bevorstehende Hauptverhandlung. Nach einer Aussetzung der Hauptverhandlung muss der Antrag ggf. wiederholt werden (KG DAR 2017, 714; VRS 99, 372; OLG Bamberg DAR 2012, 393; OLG Brandenburg VRS 1...