Trotz eines Leistungsvermögens von mind. sechs Stunden täglich ist eine Einsatzfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts ausnahmsweise dann nicht gegeben, wenn einer der bereits zur früheren Rechtslage durch Beschluss des BSG (Großer Senat) v. 19.12.1996 – GS 2/95, juris Rn 38, entwickelten sog. Seltenheits- oder Katalogfälle vorliegt: Dazu zählen die Konstellationen, in denen Versicherte zwar an sich noch eine „Vollzeittätigkeit” ausüben können,
a) |
aber nicht unter den in den Betrieben üblichen Bedingungen (insb. rechtlicher Rahmen von Arbeitsverhältnissen und tatsächliche Übungen etwa zu Dauer, Pausen und Verteilung der Arbeitszeit). |
b) |
aber ihr Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (Wegefähigkeit) relevant eingeschränkt ist, was der Fall ist, wenn Versicherte nicht mehr als täglich viermal eine Wegstrecke zu Fuß von mind. 500 m zurücklegen können und ein Pkw nicht zur Verfügung steht und auch nicht als berufliche Rehamaßnahme (§ 49 Abs. 8 S. 1 Nr. 1 SGB IX) gemäß der Kfz-Hilfe-VO vom Rentenversicherungsträger gewährt wird. |
Weitere Katalogfälle betreffen die Einsetzbarkeit von Versicherten lediglich
c) |
in einem Teilbereich des Tätigkeitsfeldes, |
d) |
auf Schonarbeitsplätzen, |
e) |
auf Arbeitsplätzen, die an Berufsfremde nicht vergeben werden |
f) |
auf Aufstiegspositionen, |
g) |
auf Arbeitsplätzen, die in ganz geringer Zahl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorkommen. |
Diese Grundsätze gelten auch für Ansprüche auf EM-Renten nach dem ab dem 1.1.2001 geltenden Recht (BSG, Urt. v. 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R, Rn 22, hierzu Anm. Spiolek, jurisPR-SozR 17/2020 Anm. 4). Liegen die Umstände der oben genannten Katalogfälle a) und b) vor, sind ohne Prüfung einer Verweisungstätigkeit regelmäßig die Voraussetzungen einer vollen EM gegeben.
Die in den Katalogfälle c) bis g) genannten Umstände setzen hingegen die Benennung einer Verweisungstätigkeit voraus. Hierfür ist nach der Rechtsprechung des BSG vorab zu prüfen, ob im Falle eines auf leichte Tätigkeiten beschränkten Leistungsvermögens eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung gegeben ist. Erst ein solcher Ausnahmefall begründet die Notwendigkeit der Benennung einer Verweisungstätigkeit, weil ernste Zweifel daran bestehen, dass Versicherte mit dem ihnen verbliebenen Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar sind (s. hierzu näher BSG, Urt. v. 11.12.2019, a.a.O., Rn 28 ff.; Beispielsfälle aus der Rechtsprechung dafür, wann die Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderlich ist und wann nicht, finden sich bei Kuszynski, Kommentar zum Sozialrecht, 7. Aufl. § 43 Rn 9 f., s. ferner ausführlich Plagemann/Haidn, a.a.O., Rn 58 ff.).
Hinweis:
Das Risiko einer häufigen Arbeitsunfähigkeit (AU) kann dann zu EM führen, wenn feststeht, dass die (vollständige) AU so häufig auftritt, dass die während eines Arbeitsjahres zu erbringenden Leistungen nicht mehr den Mindestanforderungen entsprechen, die ein „vernünftig und billig denkender Arbeitgeber” zu stellen berechtigt ist. Diese Mindestanforderungen sind dann nicht mehr als erfüllt anzusehen, wenn Versicherte die Arbeitsleistung für einen Zeitraum von mehr als 26 Wochen im Jahr gesundheitsbedingt nicht mehr erbringen können (BSG, Beschl. v. 31.10.2012 – B 13 R 107/12 B, juris, Rn 15).