Die Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos gehört zu den Kernaufgaben der gesetzlichen Rentenversicherung.
Langzeiterkrankte oder behinderte Versicherte, die nicht mehr in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit selbst zu sichern, steht an unterhaltsichernden Leistungen der Sozialversicherung zur Verfügung:
- Krankengeld, allerdings nur bis zu 78 Wochen bei Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit;
- Arbeitslosengeld nach dem SGB III bei Verfügbarkeit (§ 138 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 5 SGB III), ggf. auch nach § 145 SGB III (Nahtlosigkeitsregelung), aber maximal für zwei Jahre;
- Erwerbsminderungsrenten, zwar grds. befristet, wenn die Voraussetzungen nach Ablauf der – ggf. wiederholten – Befristung weiter bestehen, jedoch bis zum Erreichen der Regelaltersrente. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass über die Ansprüche auf Erwerbsminderungsrenten oft heftig gestritten wird, es ist häufig der einzige Weg, um die Inanspruchnahme von bedarfsabhängigen Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII zu vermeiden.
Am 31.12.2020 bezogen 1.820.287 Versicherte Erwerbsminderungsrente (EM-Rente), der durchschnittliche mtl. Rentenzahlbetrag nach Abzug der Beträge für Kranken- und Pflegeversicherung betrug bei Frauen 850 EUR (West und Ausland) bzw. 965 EUR (Ost), bei Männern 872 EUR bzw. 826 EUR. Jährlich beanspruchen rd. 170.000 Menschen (in 2020: 175.808) eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, weil es ihnen aus gesundheitlichen Gründen verwehrt ist, bis zur Regelaltersgrenze weiterzuarbeiten, selbst wenn sie es wollten. Weitere Angaben (Stand Juni 2021) zu Versicherten, Rentenbestand, Rentenzugang/-wegfall, Rehabilitation finden sich auf der Internetseite der DRV – deutsche-rentenversicherung.de – Ergebnisse auf einen Blick 2021.
Seit dem 1.1.2000 bestimmt § 43, nach welchen Voraussetzungen Anspruch auf Renten wegen voller (Abs. 2) und teilweiser (Abs. 1) Erwerbsminderung (EM) besteht. Die Vorschrift sieht eine zweistufige EM-Rente vor, die grds. nur befristet gewährt wird (§ 102). Sie ersetzt die in den Vorgängerregelungen (§§ 43 und 44) vorgesehenen Renten wegen EM bzw. wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Auch Selbstständige können der gesetzlichen Rentenversicherung angehören, so als Pflichtversicherte nach § 2. Für sie gelten die für die Inanspruchnahme von EM-Renten geltenden Vorschriften ebenso.
EM-Rente steht nach § 43 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 Versicherten bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (§ 35 S. 2, § 235 Abs. 2) zu, die
- auf nicht absehbare Zeit teilweise oder voll erwerbsgemindert sind,
- in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EM drei Jahre Pflichtversicherungsbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit aufweisen (sog. Drei-Fünftel-Belegung) und
- die allgemeine, grds. fünfjährige Wartezeit (§ 50 SGB VI) vor Eintritt der EM erfüllt haben.
Versicherte, die vor dem 2.1.1961 geboren sind, können Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser EM bei Berufsunfähigkeit (BU) haben, § 240. Diese hat bereits jetzt an Bedeutung verloren und wird in einigen Jahren keine Rolle mehr spielen (vgl. zu den Voraussetzungen dieser Rente Plagemann/Haidn, Münchener Anwaltshandbuch Sozialrecht, 5. Aufl. 2018, § 22 Rn 87 ff.).
Eine Rente für Bergleute bei verminderter bergmännischer BU sieht § 45 vor. Auf diese wird in diesem Beitrag nicht eingegangen.
Hinweis:
Leistungen zur Teilhabe (s. § 9 Abs. 1, § 9 Abs. 1 SGB IX und §§ 15, 16) haben gem. Abs. 2 der vorgenannten Normen Vorrang vor Rentenleistungen, was auch während des Bezugs einer Rentenleistung gilt („Reha geht vor Rente”). Es ist den Mandantinnen und Mandanten dringend zu empfehlen, solche angebotenen Maßnahmen anzutreten oder eine Wiedereingliederungsmaßnahme nach § 28 SGB IX jedenfalls zu versuchen (s. näher Plagemann/Haidn, a.a.O., § 22 Rn 25 „Praxistipp”).
Der Begriff der EM ist abzugrenzen zu anderen im Sozialrecht häufig verwendeten Begriffen:
- Die Minderung der Erwerbsfähigkeit i.S.d. gesetzlichen Unfallversicherung (s. § 56 SGB VII), erfasst in von-Hundert-Sätzen den durch körperliche, seelische und geistige Folgen des Versicherungsfalls – Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, § 7 SGB VII – bedingten Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (s. näher KassKomm/Ricke, § 56 SGB VII Rn 16 ff. m.w.N.).
- Der Grad der Behinderung (GdB) im SGB IX bzw. der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) im Sozialen Entschädigungsrecht bezieht sich auf die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen, nicht nur im allgemeinen Erwerbsleben, wobei der GdB auf alle Gesundheitsstörungen bezogen ist, unabhängig von ihrer Ursache (also final), der GdS nur auf Schädigungsfolgen (also kausal). Zu Parallelen und Unterschieden der Begriffe Schwerbehinderung und Erwerbsminderung s. Cirsovius, Sozialrechtaktuell 2017, 170.
- Arbeitsunfähigkeit i.S.d. gesetzlichen Krankenversicherung ist gegeben, wenn Versicherte ihre zuletzt ausgeübte Erwerbstätigkeit oder eine ähnlich geartete (gleichartige) nicht mehr, oder nur auf die Gefahr hin ve...