1. Begriff der Erwerbsminderung
a) Einschränkung des individuellen Leistungsvermögens
Bei der Prüfung, ob EM i.S.v. § 43 besteht, ist es zunächst erforderlich, das individuelle Leistungsvermögen des Versicherten (qualitativ und quantitativ) einzuschätzen; vom Umfang der Leistungseinschränkung hängt ab, ob Rente wegen voller oder teilweiser EM in Betracht kommt. Zu klären sind hierbei Störungen der körperlichen und geistigen Funktionsfähigkeit (s. Plagemann/Haidn, a.a.O., Rn 13 ff.). Die Beurteilung erfolgt regelmäßig unter Heranziehung medizinischer Sachverständigengutachten.
In der Instanzrechtsprechung wird teilweise die Auffassung vertreten, psychische Erkrankungen seien im Recht der EM-Rente erst dann relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, ambulant oder stationär) davon auszugehen sei, dass die Versicherten die Krankheit weder aus eigener Kraft noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe dauerhaft überwinden können. Das Fehlen einer solchen Behandlung stehe einer Rentengewährung entgegen (s. etwa LSG Bayern, Urt. v. 19.12.2018 – L 19 R 165/17; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 27.4.2016 – L 5 R 459/15).
Das BSG hat hingegen bereits 1979 zum damals geltenden Recht entschieden, die Behandlungsfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit einer festgestellten Gesundheitsstörung stehe dem Eintritt des Versicherungsfalls nicht im Wege und eine unterbliebene Behandlung – ohne Rücksicht auf die Ursache der Unterlassung – schließe es nicht aus, eine vorhandene Gesundheitsstörung als Krankheit einzuordnen (Urt. v. 19.6.1979 – 5 RJ 122/77). Dies gilt nach der Rechtsprechung des BSG unverändert für Renten wegen Erwerbsminderung nach § 43, auch insoweit führe die Verweigerung einer Behandlung nicht dazu, eine Gesundheitsstörung nicht als Krankheit i.S.v. § 43 Abs. 1 S. 2 bzw. Abs. 2 S. 2 anzusehen; die Bestimmung des § 43 enthalte eine solche Einschränkung nicht (s. BSG, Beschl. v. 31.10.2018 – B 13 R 275/17 B, juris Rn 9).
Das BSG hält diese Rechtsprechung ausdrücklich aufrecht (s. Beschl. v. 28.9.2020 – B 13 R 45/19 B, ebenso v. 21.10.2020 – B 13 R 79/18 B). Soweit einzelne LSGe (s.o.) für ihre abweichende Auffassung sich auf die Entscheidungen des BSG vom 12.9.1990 (5 RJ 88/89) und vom 29.3.2006 (B 13 RJ 31/05R) berufen, sind diese nicht einschlägig und stützen die Gegenansicht gerade nicht, wie das BSG (Beschl. v. 28.9.2020 – B 13 R 45/19 B, juris Rn 6) im Einzelnen ausführt.
Das LSG Baden-Württemberg hält inzwischen (Urt. 1.7.2020 – L 5 1265/18, s. hierzu Keller jurisPR-SozR 20/2020 Anm. 6) an seiner o.g. Entscheidung vom 27.4.2016 nicht mehr fest. Die Frage der Behandelbarkeit einer psychischen Erkrankung sei nur für die Befristung und Dauer einer EM-Rente von Bedeutung. Allerdings verweist der Senat darauf, es stehe dem Rentenversicherungsträger offen, in Fallgestaltungen, in denen er eine fehlende adäquate Behandlung sieht, wegen fehlender Mitwirkung der Leistungsberechtigten (§ 63 SGB I) nach § 66 Abs. 2 SGB I vorzugehen und nach erfolglos gebliebener Aufforderung zur Mitwirkung die Leistung ganz oder teilweise zu versagen oder zu entziehen.
Hinweise:
- Werden Gutachten zur Klärung, ob EM besteht, von Amts wegen erhoben, so treffen die Gerichte die Auswahl der Gutachter (die sich auf das Prozessergebnis entscheidend auswirken kann), § 118 SGG. Die Prozessvertreter haben es aber in der Hand, i.R.v. § 109 SGG einen Gutachter ihrer Wahl zu bestimmen (s. zu dieser Vorschrift die instruktiven Entscheidung des LSG Baden-Württemberg vom 11.12.2020 – L 4 R 1223/20 (rkr.), ASR 2021, 78, hierzu Sartorius/Winkler, ZAP F. 18, S. 1837, 1851 f.).
- Nützliche Hinweise zu einzelnen Krankheitsbildern (körperlich und psychisch bedingte) und ihren Auswirkungen auf die Minderung der Erwerbsfähigkeit finden sich bei Plagemann/Haidn, a.a.O., Rn 26 ff.
b) Auswirkungen auf die üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts
Sodann ist eine Prognose darüber zu treffen, inwieweit dieses individuelle Leistungsvermögen unter den
verwertbar ist. Anspruch auf Rente wegen EM haben die nach dem 1.1.1961 geborenen Versicherten grds. nur noch dann, wenn ihr (Rest-)Leistungsvermögen für den allgemeinen Arbeitsmarkt – unabhängig von der Ausbildung und bisherigen Tätigkeit der Versicherten (abstrakte Betrachtungsweise) – auf unter sechs Stunden täglich herabgesunken ist; hierbei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage grds. nicht zu berücksichtigen, s. § 43 Abs. 3 (zu Ausnahmen siehe sogleich unter 2).
- Ob und inwieweit die Medizin jedoch überhaupt über Forschungsergebnisse dazu verfügt, ob Versicherte noch in einem bestimmten Zeitmaß (drei oder sechs Stunden) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt berufstätig sein können, erscheint fraglich (s. Kater, Das ärztliche Gutachten im SGG-Verfahren, 2. Aufl., S. 57 f.). Die entsprechende Ermittlung kann ggf. mithilfe einer Apparatur wie des ERGOS Work-Simulators erfolgen (s. hierzu Glatz in Francke/Gagel/Bieresborn, Der Sachverständigenbeweis im Sozialre...