"Deutschland – halb Weltmacht, halb Failed State" – so lautet die Überschrift eines Artikels in der WELT v. 27.6.2022 (s. https://www.welt.de/debatte/plus239590339/Deutschland-halb-Weltmacht-halb-Failed-State.html ). Der Artikel beinhaltet sicher viele Wahrheiten, die hier nicht problematisiert werden können. Problematisiert werden sollen aber zwei Punkte des Justizwesens, die der Laie in einem "Failed State" vermuten würde – nicht aber in einem Rechtsstaat – und die die Anwaltschaft seit Jahrzehnten nicht bereinigen konnte.
Die Klagen über die Ineffektivität des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts dürften älter sein als der älteste Leser dieser Zeitschrift. 1964 kam es zur "kleinen Strafprozessrechtsreform", die deswegen "klein" genannt wurde, weil es zur "großen Strafprozessrechtsreform" noch kommen sollte. Seitdem ist aber weder eine "große" Strafprozessrechtsreform gekommen noch ein (deutlicher) Ausbau von Bürger- und Beschuldigtenrechten, sondern im Ergebnis ein stetiger Abbau von Bürgerrechten im Strafverfahren, nachdem die erweiterte Revision die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hat (vgl. Neuhaus, Der Abbau von Bürgerrechten im Strafverfahren seit 1989, FG zum 20-jährigen Jubiläum der ZAP, S. 54).
Das bedeutet: Die Kontrolle der tatrichterlichen Beweiswürdigung ist ineffektiv, wenn erstinstanzliche Verfahren beim LG beginnen. Entsprechende Angriffe der Verteidigung beim BGH sind i.d.R. chancenlos und werden durch Textbausteine beiseitegelegt. All das ist weit und lange bekannt und wäre daher keine Meldung wert. Gleichwohl ist es wichtig, dass die Anwaltschaft nicht nur das abstrakte Problem kennt, sondern dieses mit Namen, Daten und Fakten ausfüllen kann.
Nur durch die konkrete Diskussion mit dem Gericht anhand von Beispielsfällen kann der konkrete Prozessvertreter eine gründlichere Eigenprüfung des Gerichts einfordern. Der Fall des "Bauern Rupp" dürfte noch allgemein bekannt sein. Nunmehr hat ein vermeintlicher Mordfall am Tegernsee erneut gezeigt, dass Gerichte mitunter nicht das Recht, sondern das Unrecht sichern (vgl. "Das Korps der Richter", Süddeutsche Zeitung v. 22.8.2022, S. 4):
Das Tatgericht war davon überzeugt, dass ein Mann eine Rentnerin bewusstlos geschlagen und danach in ihrer Badewanne ertränkt hatte. Das Motiv der angeblichen Tat sei es gewesen, dass der Mann Geld der Dame unterschlagen habe und diese tötete, als diese ihn zur Rede stellen wollte. Nachdem im Verfahren dieses Motiv widerlegt war, erfand der Staatsanwalt ein neues Motiv, nämlich: Die Rentnerin habe dem Mann verübelt, dass er keiner Kaffeeeinladung gefolgt sei und im Streit darüber habe der Mann die Frau zu Boden geschlagen und danach ertränkt. Die Münchner Rechtsmedizin meinte, dass es nahezu unmöglich sei, dass die Frau durch einen Unfall/Sturz in dieâEUR™Badewanne die Verletzungen erlitten haben könnte. Der mittlerweile verstorbene Grandseigneur des Revisionsrechts, Gunter Widmaier, erreichte in der Revision eine Aufhebung des UrteilsâEUR™und meinte, dass man die Akte hätte schließen müssen, nachdem das Motiv entfallen war. Die Zurückverweisung erfolgte an eine andere KammerâEUR™desselben Tatgerichts.
Die neue Kammer verurteilte den Mann ebenfalls, weil ein Sturzgeschehen auszuschließen sei, denn hierdurch könnten die Verletzungen nicht erklärt werden und es habe auch keinen Anlass für die Dame gegeben, sich über die Badewanne zu beugen. Die Behauptung des Angeklagten, dass die Dame sich deshalb über die Badewanne gebeugt hatte, um ihre Wäsche vorzureinigen, sei zur Überzeugung der Kammer auszuschließen. Die erneute Revision (mit 124 Seiten) wies der BGH (mit 15 Zeilen) zurück. Neue Gutachten belegten jedoch einerseits, dass die Verletzungen schon durch einen Sturz herbeigeführt worden sein konnten, und andererseits, dass der Todeszeitpunkt näher eingegrenzt werden konnte und der Mann als Täter (mit 95%iger Wahrscheinlichkeit) ausschied. Auch meldete sich eine Zeugin, die durchaus von der Marotte der Rentnerin berichtete, die Wäsche in der Badewanne vorzureinigen. Die mit der Wiederaufnahme betraute Strafkammer meinte jedoch, dass dies alles nur Möglichkeiten, Schlussfolgerungen und Behauptungen aufzeigten, die nicht reichten, um das Urteil zu erschüttern. Erst das OLG erklärte den Wiederaufnahmeantrag für zulässig und das Landgericht musste die zuvor abgelehnte Beweiserhebung nun doch durchführen. Alle Sachverständigen, auch die der Münchner Rechtsmedizin, meinten nun, dass die Dame mit hoher Wahrscheinlichkeit durch einen Sturz in die Badewanne gelangte und dort ertrank. Das Landgericht, das davor die Wiederaufnahme noch abgelehnt hatte, verfügte nun – nach 13-jähriger Inhaftierung – die Freilassung des Mannes (vgl. "Im Zweifel gegen den Angeklagten", Süddeutsche Zeitung v. 18.8.2022, S. 3).
Die Kenntnis der näheren Einzelheiten dieses Falls ist deshalb wichtig, weil sich vermutlich jeder praktisch tätige Anwalt in einer ähnlichen Situation befunden haben wird. Der Sachverständige kommt zu einem bestimmten Er...