Das Vorliegen der Voraussetzungen der § 111a Abs. 1 S. 1 StPO, 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB haben Staatsanwaltschaft und Gerichte in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise zu prüfen. Denn auch vorläufige Eingriffe in Freiheitsrechte können nicht mit vagen Annahmen und nicht näher plausibilisierten oder angreifbaren Schätzungen von Strafverfolgungsbehörden gerechtfertigt werden, sondern bedürfen einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage. Das hat der VerfGH Saarland zu einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO angemerkt (Beschl. v. 8.11.2022 – Lv 13/22, DAR 2023, 24 = StRR 12/2022, 18 = VRR 12/2022, 16). Der Betroffene, der beruflich als Busfahrer tätig ist, soll an einer verengten Straßenstelle mit einem von ihm gesteuerten Bus einen verbotswidrig geparkten Pkw bei einem Rangiermanöver im Bereich der linken hinteren Stoßstange gestreift und sich sodann vom Unfallort entfernt haben. An dem angeblich hierdurch beschädigten Wagen fanden sich an der betroffenen Stelle lediglich „aufgrund der regennassen Witterung Schmutzanhaftungen”. Eine Spurensicherung wurde von der Polizei nicht durchgeführt. Der Sachschaden wurde polizeilich auf 3.000 EUR geschätzt. Die geschädigte Halterin wurde benachrichtigt. Sie meldete sich nach drei Wochen bei der Polizei und gab als Information über das vermeintliche Geschehen an, sie werde ihren Wagen in einer Werkstatt reparieren lassen und – was bislang auch auf Nachfrage hin nicht geschehen war – die Reparaturrechnung nachreichen.
Der VerfGH (a.a.O.) moniert, dass nicht erkennbar ist, dass Staatsanwaltschaft und die mit dem Verfahren befassten Gerichte nicht sich aus den Akten ergebenden offenkundigen Zweifeln nachgegangen sind und bestehende, nahe liegende und bessere Erkenntnismöglichkeiten einer Prüfung der entscheidenden Schadenhöhe genutzt hätten. Vielmehr stützen sich die Grundrechtseingriffe allein auf eine nicht näher begründete polizeiliche Schätzung. Eine solche, meist auf vielfältigen Erfahrungswerten beruhende Schätzung zugrunde zu legen, ist nach Auffassung des VerfGH zwar nicht unzulässig. Das ist indessen anders, wenn die Schätzung im Grenzbereich der Annahme eines bedeutenden Sachschadens liegt, oder wenn – zum Zeitpunkt der Beantragung oder des Erlasses des Beschlusses über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis – Anhaltspunkte vorliegen, die die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen auf die Hand legen.
Hinweis:
Die lesenswerte Entscheidung bietet insb. in den Fällen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis wegen eines Verstoßes gegen § 142 StGB Argumentationshilfe gegen die häufig vorschnelle vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO.
In einer Entscheidung des LG Stuttgart v. 4.8.2023 (9 Qs 39/23) ging es um die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis mehr als 13 Monate nach der Tat. Der Angeklagte soll sich am 2.6.2022 unerlaubt vom Unfallort entfernt haben. Die Staatsanwaltschaft beantragt am 20.6.2023 einen Strafbefehl und die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis. Das AG erlässt den Strafbefehl, eine Entziehungsentscheidung trifft es nicht. Die erlässt es erst, als der Angeklagte gegen den Strafbefehl Einspruch eingelegt hat. Das LG Stuttgart (a.a.O.) hat diese Entziehung als unverhältnismäßig angesehen. Sie sei erst mehr als 13 Monate nach dem Unfallereignis erfolgt, zudem verstoße die bisherige Sachbehandlung durch die Ermittlungsbehörde und das Gericht eklatant gegen das Beschleunigungsgebot. Die Entscheidung ist zutreffend, v.a., weil sie der „Retourkutsche” des AG – der Verdacht liegt bei dem Verfahrensablauf auf der Hand – eine Absage erteilt hat.