Die Verfassungsbeschwerde zog erst nach und nach in den Zuständigkeitsbereich der Landesverfassungsgerichte ein. Von Anfang an sahen nur die Verfassungen von Bayern und Hessen die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde vor. 1958 folgte das Saarland. Nach der Wiedervereinigung gaben sich alle neuen Länder und Berlin eine sog. Vollverfassung, die einen Katalog von Grundrechten enthält, deren Einhaltung vor dem jeweiligen Landesverfassungsgericht eingeklagt werden kann. Rheinland-Pfalz führte die Verfassungsbeschwerde 1992 ein. In Baden-Württemberg wurde die Verfassungsbeschwerde am 1.4.2013 eingeführt. Um diesem „Zuständigkeitszuwachs” Rechnung zu tragen, wurde der „Staatsgerichtshof” mit Änderung der Landesverfassung in „Verfassungsgerichtshof” umbenannt. Seit dem 1.1.2019 gibt es die Individual-Verfassungsbeschwerde auch in Nordrhein-Westfalen. Demgegenüber entschied sich neben Bremen, Hamburg und Niedersachsen auch Schleswig-Holstein bei der Errichtung seines Landesverfassungsgerichts im Jahr 2008 gegen die Einführung einer Individualverfassungsbeschwerde (zum Überblick: Scheffczyk, LKV 2017, 392, 394). Die maßgeblichen Normen sind:
Bundesland |
Gesetzliche Regelung |
Baden-Württemberg |
Art. 68 Abs. 1 LVerf BW, §§ 55 VerfGHG BW |
Bayern |
Art. 66, 120 BayVerf, Art. 51 ff. BayVfGHG |
Berlin |
Art. 84 Abs. 2 Nr. 5 VvB, §§ 49 ff. BlnVerfGHG |
Brandenburg |
Art. 113 Nr. 4 LVerf Bbg, §§ 45 ff. VerfGGBbg |
Bremen |
– |
Hamburg |
– |
Hessen |
Art. 131 Abs. 1 LVerf HE, §§ 43 ff. StGHG HE |
Mecklenburg-Vorpommern |
Art. 53 Nr. 6 u. 7 LVerf M-V, §§ 52 ff. LVerfGG M-V |
Niedersachsen |
– |
Nordrhein-Westfalen |
Art. 75 Nr. 5 Buchst. a LVerf NRW, §§ 53 ff. VerfGHG NRW |
Rheinland-Pfalz |
Art. 130a Abs. 1 LVerf RP, §§ 44 ff. VGHG RP |
Saarland |
Art. 97 Nr. 4 SVerf, §§ 55 ff. SVerfGHG |
Sachsen |
Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 SächsVerf, §§ 27 ff. SächsVGHG |
Sachsen-Anhalt |
Art. 75 Nr. 6 LVerf SA, §§ 47 ff. LVerfGG SA |
Schleswig-Holstein |
– |
Thüringen |
Art. 80 Abs. 1 Nr. 1 LVerf TH, §§ 31 ff. ThürVerfGHG |
Im Rahmen der Zulässigkeit finden sich die bekannten (in einigen Bundesländern modifizierten) Prüfungspunkte der Bundesverfassungsbeschwerde wieder.
Hinweis:
In Baden-Württemberg (§ 55 VerfGHG BW), Berlin (Art. 84 Abs. 2 Nr. 5 VvB), Brandenburg (§ 45 Abs. 1 VerfGGBbg), Hessen (§ 43 Abs. 1 S. 2 StGHG HE) und Nordrhein-Westfalen (§ 53 Abs. 1 VerfGHG NRW) ist die Landesverfassungsbeschwerde jedoch unzulässig, wenn bereits Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben ist oder wird. Nach Art. 53 Nr. 7 LVerf M-V ist die Landesverfassungsbeschwerde in Mecklenburg-Vorpommern gegenüber der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht subsidiär.
Regelmäßig gibt es kein Annahmeverfahren, sodass auch über Verfassungsbeschwerden entschieden werden muss, denen keine besondere subjektive oder objektive Bedeutung zukommt (Scheffczyk, LKV 2017, 392, 395). Es kommt i.d.R. darauf an, dass der Rechtsweg erschöpft ist (bzw. das Ausschöpfen des Rechtswegs unzumutbar ist). Jedoch sind die weiteren Subsidiaritätsanforderungen in Teilen geringer (Walter, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 104. EL [Stand: April 2024], Art. 93 Rn 135). Dies stellt aus Sicht der Rechtsschutzsuchenden eine substanzielle Erleichterung dar, die insgesamt die Verfassung selbst stärkt (von Coelln, NWVBl 2023, 1). Für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ist zudem die Wahrung der Frist (ein oder zwei Monate gegen gerichtliche Entscheidungen; ein Jahr gegen Rechtsnormen) zur Einlegung und Begründung zu beachten.
Hinsichtlich des Prüfungsgegenstands ist zu beachten, dass eine Landesverfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Gerichts eines Landes nicht in Betracht kommt, soweit die Entscheidung durch ein Bundesgericht in der Sache ganz oder teilweise bestätigt worden ist; ebenso, wenn die Entscheidung des Gerichts eines Landes nach Zurückweisung unter Bindung an die Maßstäbe des Bundesgerichts ergangen ist (BVerfG, Beschl. v. 15.10.1997 – 2 BvN 1/95, juris). Landesverfassungsbeschwerden gegen die Entscheidung eines Obersten Gerichtshofs des Bundes sind ebenfalls unzulässig, da es sich nicht um einen Landeshoheitsakt handelt.
In Bayern ist zu beachten, dass eine Rechtsnorm nicht Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sein kann. Hierfür steht in Bayern die Popularklage (s. III. 2.) zur Verfügung.
Zudem finden sich in einigen Landesgesetzen auch sog. Bundesrechtsklauseln (z.B. § 53 VerfGHG NRW), wonach die Verfassungsbeschwerde unzulässig ist, soweit die öffentliche Gewalt des Landes Bundesrecht ausführt oder anwendet, es sei denn, die Anwendung betrifft Prozessrecht des Bundes durch ein Gericht des Landes.
Hinweis:
Diese Klauseln gehen auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 15.10.1997 – 2 BvN 1/95, juris) zurück, wonach Landesverfassungsbeschwerden aus grundgesetzlicher Perspektive jedenfalls insoweit möglich sind, als um die Anwendung von Prozessrecht gestritten wird. Voraussetzung soll zudem sein, dass das Landesgrundrecht inhaltsgleich mit einem Grundrecht des Grundgesetzes ist. Was allerdin...