Die Beteiligten streiten im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X darüber, ob das LWS-Leiden des Klägers als Berufskrankheit (Versicherungsfall nach § 7 Abs. 1 SGB VII) nach Nr. 2108 (BK 2108) der Anl. 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) festzustellen ist.
Auf Antrag des Klägers entschied die beklagte BG zunächst bereits im Jahr 2012, es bestehe keine BK 2108, weil ein belastungskonformes Schadensbild fehle. Die Klage auf gerichtliche Feststellung der BK 2108 blieb erfolglos, ebenso die eingelegte Berufung und die erhobene Nichtzulassungsbeschwerde. Den hiernach im Jahr 2018 gestellten Überprüfungsantrag des Klägers lehnte die Beklagte ab. Klage und Berufung blieben hinsichtlich der Anträge des Klägers, mit denen er begehrte,
- im Wege der Kombination (§ 56 SGG) einer Anfechtungs- und zweier Verpflichtungsklagen (§ 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 u. 3 SGG) die Ablehnungsentscheidung im Bescheid aus 2018 in der Gestalt des dazu ergangenen Widerspruchsbescheids (§ 95 SGG) gerichtlich aufzuheben sowie
- die Beklagte zu verpflichten, ihren bestandskräftigen Verwaltungsakt über die Ablehnung der BK im Ausgangsbescheid aus 2012 sowie den hierzu ergangenen Widerspruchsbescheid zurückzunehmen und das LWS-Leiden als BK 2108 behördlich festzustellen,
erfolglos. Das LSG führte aus, aufgrund des Berufungsurteils im früheren Klageverfahren stehe rechtskräftig fest, dass keine BK 2108 vorliege. Damals habe der Kläger erfolglos die gerichtliche Feststellung dieser BK begehrt. Werde eine auf Feststellung eines Rechtsverhältnisses gerichtete Klage rechtskräftig abgewiesen, stehe das Gegenteil der begehrten Feststellung, nämlich das Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses, fest. Die Rechtskraft des Feststellungsurteils könne – im Gegensatz zur Rechtskraft anderer Urteile – nicht durch § 44 SGB X überwunden werden (so bereits LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 16.2.2012 – L 10 U 3886/10, Rn 28 u. LSG Thüringen, Beschl. v. 7.1.2019 – L 1 U 619/18 Rn 20).
Dem folgte das BSG nicht, sondern hielt die Revision des Klägers i.S.d. Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG (§ 170 Abs. 2 S. 2, Abs. 5 SGG) für begründet (BSG, Urt. v. 27.9.2023 – B 2 U 13/21 R, hierzu zustimmend Keller, jurisPR-SozR 6/2024 Anm. 4).
Hinweise:
- § 44 SGB X begründet einen Anspruch auf die Rücknahme eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakts, auch wenn dieser bestandskräftig geworden war. Diese Vorschrift hat nicht nur in der Praxis der Sozialverwaltung und der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit eine große Bedeutung, sondern auch für die anwaltlichen Vertreter der Klägerseite: So kann sich über einen Antrag nach § 44 SGB X auch nach einem für die Klägerseite ungünstig und rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren die Möglichkeit ergeben, doch noch eine vorteilhafte Entscheidung herbeizuführen. Die Vorschrift gilt als singuläre Norm des Sozialverwaltungsrechts, die sich von den Regelungen zur Rücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakte im allgemeinen Verwaltungsrecht (§ 48 VwVfG) und dem Finanzverwaltungsrecht (§§ 130, 172 ff. AO) insoweit unterscheidet, als diese Regelungen keine Aufhebungspflicht nach Unanfechtbarkeit der Bescheide anordnen.
- Ein Antrag nach § 44 SGB X kann auch wiederholt gestellt werden (BSG, Urt. v. 30.1.2020 – B 2 U 2/18 R, hierzu Sartorius/Winkler, ZAP 2020, 1021, 1036). Gleiches gilt, wenn der rechtswidrige Verwaltungsakt auf einem gerichtlichen Vergleich beruht (näher KassKomm/Steinwedel, 118. EL [Stand: 1.3.2022], § 44 SGB X Rn 7 m.w.N.). Der Rücknahmepflicht nach § 44 SGB X steht nicht entgegen, dass der aufzuhebende Verwaltungsakt bei seinem Erlass sowohl mit einer damals weitverbreiteten Rechtsauffassung als auch mit der vormaligen Rspr. des nunmehr entscheidenden BSG-Senats übereinstimmte. Für die Beurteilung der anfänglichen Rechtswidrigkeit ist allein der Überprüfungszeitraum maßgeblich, sodass der rechtlichen Beurteilung ggf. eine geläuterte Rechtsauffassung zugrunde zu legen ist (BSG, Urt. v. 30.1.2020 – B 2 U 2/18 R, hierzu Sartorius/Winkler, a.a.O.).
- Abs. 1 der Vorschrift betrifft Fälle, in denen Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben wurden und ordnet eine Rücknahme auch mit Wirkung für die Vergangenheit an (s. aber Abs. 4 der Norm).
- Abs. 2 der Bestimmung bildet einen Auffangtatbestand für Fälle, in denen der spezielle Abs. 1 nicht anwendbar ist, was vorliegend der Fall ist, da im Bescheid aus 2012 nur die Feststellung einer BK, nicht aber die Gewährung einer Sozialleistung abgelehnt worden war; die Rücknahme erfolgt bei S. 2 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft, S. 1, sie kann (Ermessen) auch für die Vergangenheit geschehen, S. 2.
Es entspricht st. Rspr. des BSG, dass § 44 SGB X – als andere Bestimmung i.S.d. § 77 Hs. 2 SGG – die Bindungswirkung bestandskräftiger Verwaltungsakte (§ 77 Hs. 1 SGG) durchbricht und einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts auch dann vermittelt, wenn dessen Rechtmäßigkeit im R...