Der Digitalisierung der Verwaltung wird derzeit auf der politischen Agenda oberste Priorität beigemessen. In dem hier zu besprechenden Verfahren ging es um Fragen der Umsetzung der Digitalisierung in sozialverwaltungsrechtlichen Verfahren. Das BSG hatte in seinem Urt. v. 27.9.2023 – B 7 AS 10/22 R, juris (hierzu auch Keller, jurisPR-SozR 9/2024 Anm. 5; Müller, NZS 2024, 507) zu klären, welche Anforderungen erfüllt sein müssen, dass von der Eröffnung des elektronischen Zugangs auszugehen ist und ob die Rechtsbehelfsbelehrung auch einen Hinweis darauf enthalten muss, dass ein Widerspruch elektronisch eingelegt werden kann.
Der Beklagte hatte die Bewilligungen von Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld aufgehoben und forderte von den Klägern die Erstattung eines Teils der Leistungen für die Monate September bis Oktober bzw. November 2017, weil wegen des Verdienstes des Klägers zu 1 diesem nur Leistungen in niedrigerer als der bewilligten Höhe zuständen. In der Rechtsbehelfsbelehrung des Verwaltungsakts, in dessen Briefkopf eine E-Mail-Adresse enthalten war, wurde nicht auf die Möglichkeit einer elektronischen Widerspruchseinlegung hingewiesen. Die Kläger legten Widerspruch am 27.12.2018 ein, der als unzulässig zurückgewiesen wurde. Die Klagen und Berufungen hiergegen blieben ohne Erfolg. Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung der §§ 84, 66 Abs. 2 SGG i.V.m. § 36a SGB I.
Das BSG ging – anders als die Vorinstanzen – von einer rechtzeitigen Widerspruchseinlegung aus.
Hinweis:
Ein Widerspruch muss grds. innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts eingelegt werden (§ 84 Abs. 1 S. 1 SGG). Ob und wann ein Verwaltungsakt bekannt gegeben wurde, ist nach § 37 SGB X zu beurteilen. Enthält der Verwaltungsakt keine Rechtsbehelfsbelehrung oder ist sie fehlerhaft, beginnt die Widerspruchsfrist nicht zu laufen. Dann ist die Einlegung des Widerspruchs innerhalb eines Jahres zulässig (§ 66 SGG; zur Anwendbarkeit dieser Vorschrift im Widerspruchsverfahren s. § 84 Abs. 1 S. 1 SGG). Die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung muss nicht ursächlich für die Fristversäumung sein; ausreichend ist, dass sie abstrakt Einfluss auf die verspätete Einlegung des Rechtsbehelfs hatte (st. Rspr.; so etwa BSG, Urt. v. 9.4.2014 – B 14 AS 46/13 R, BSGE 115, 288 Rn 17).
In dem hier zu besprechenden Fall wäre der Widerspruch der Kläger nur rechtzeitig eingelegt worden, wenn der Beklagte in der Rechtsbehelfsbelehrung auch auf die elektronische Form hätte hinweisen müssen. Dann wäre die Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft gewesen mit der Folge, dass der Widerspruch innerhalb eines Jahres nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts hätte eingelegt werden können (§ 84 Abs. 2 S. 3 SGG i.V.m. § 66 Abs. 2 SGG).
Dass in der Rechtsbehelfsbelehrung eines Verwaltungsakts über die Form belehrt werden muss, ergibt sich ausdrücklich aus § 40 Abs. 1 S. 1 SGB II i.V.m. § 36 S. 1 SGB X. In welcher Form der Widerspruch eingelegt werden kann, bestimmt § 84 Abs. 1 S. 1 SGG. Danach kann er schriftlich, in elektronischer Form nach § 36a Abs. 2 SGB I oder zur Niederschrift eingelegt werden. Die elektronische Form ist in dieser Aufzählung nicht nur eine Unterform der Schriftform, sondern eine eigenständige Form (Rn 19 der Urteilsgründe m.w.N. aus der Rspr.). Wegen der Anforderungen an die elektronische Form verweist § 84 Abs. 1 S. 1 SGG u.a. auf § 36a Abs. 2 SGB I. Aus dieser Regelung folgt, dass ein elektronisches Dokument grds. mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen sein muss.
Im entschiedenen Fall war bereits fraglich, ob der Beklagte den Zugang zu elektronischen Dokumenten eröffnet hatte. Aus § 2 des Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwaltung (EGovG) kann eine solche Verpflichtung nicht abgeleitet werden. Die Jobcenter sind aus dem Anwendungsbereich dieser Vorschrift ausgenommen (§ 1 Abs. 5 Nr. 3 EGovG). Nach den Ausführungen des BSG kann eine solche Verpflichtung ferner nicht aus § 84 SGG abgeleitet werden. Ob eine landesrechtliche Verpflichtung besteht, ließ das BSG offen, weil das LSG dies nicht festgestellt hatte.
Hinweis:
Es ist str., ob die Behörde frei entscheiden kann, ob sie den Zugang für die elektronische Widerspruchseinlegung eröffnet. Ein Teil der Rspr. und der Lit. folgert daraus, dass in § 84 SGG auf § 36a Abs. 2 SGB I, nicht aber auf § 36a Abs. 1 SGB I verwiesen werde, dass diese Vorschrift den Ausschluss elektronischer Widersprüche durch die Behörde nicht ermögliche (so etwa LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 9.9.2021 – L 13 AS 345/21 B ER, Rn 7; Müller, NZS 2024, 161 f.; BeckOGK-Sozialrecht/Wichner, 73. Ed. [Stand: 1.6.2024], § 36a SGB I Rn 28; MKS/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 84 Rn 3).
Im entschiedenen Fall kam es nach Auffassung des BSG auf das Bestehen einer solchen Verpflichtung nicht an, weil der Beklagte mit der Angabe der E-Mail-Adresse im Verwaltungsakt die elektronische Kommunikation ohne Einschränkung eröffnet habe. Die Angabe der E-Mail-Adresse im Briefkopf des Verwaltungsakts hätte so verstanden wer...