1. Beweiskraft des Tatbestands
Der Tatbestand liefert gem. § 314 S. 1 ZPO jedenfalls positiven Beweis für das mündliche Parteivorbringen (positive Beweiskraft). Ein Gegenbeweis ist gem. § 314 S. 2 ZPO nur durch das Sitzungsprotokoll möglich. Damit kann zwar der Tatbestand durch das Protokoll widerlegt werden, aber umgekehrt kann ein Schweigen des Protokolls den Inhalt des Tatbestands nicht erschüttern (vgl. Eichele/Hintz/Oberheim, a.a.O., Kap. D, Rn 162): "Der Vorrang des Protokolls erstreckt sich nur auf diejenigen Punkte, die gesetzlich in das dem Urteil zugrunde liegende Protokoll aufzunehmen sind; dazu zählen nicht Einzelheiten des streitigen Verhandelns" (BGH, Urt. v. 21.12.2010 – VI ZR 312/09, NJW 2011, 1961 f.). Zum Tatbestand in diesem Sinne gehören alle Feststelllungen in der Urteilsurkunde, auch wenn sie nicht im "Tatbestand", sondern in den Gründen enthalten sind (vgl. BGH, Beschl. v. 24.6.2010 – III ZR 277/09, NJW 2009, 1482, 1485). Die Wiedergabe von Prozessgeschehen oder Zeugenaussagen oder Rechtsauffassungen unterfällt nicht der Tatbestandswirkung (vgl. BGH, Urt. v. 20.2.1990 – XI ZR 198/89, NJW-RR 1990, 813 f.). Die im Tatbestand (ggf. auch nur im Wege der Bezugnahme gem. §§ 313 Abs. 2 S. 2 ZPO) wiedergegebenen Umstände beweisen positiv, dass sie vorgetragen wurden (vgl. Eichele/Hintz/Oberheim, a.a.O., Kap. D, Rn 187a).
Ob das Schweigen des Tatbestands negativ beweist, dass ein entsprechendes Vorbringen nicht erfolgt ist (sog. negative Beweiskraft), ist strittig, wird von der (wohl) herrschenden Rechtsprechung aber mittlerweile verneint. Daraus folgt: Mit einer zulässigen Berufung gelangt der gesamte, aus den Akten ersichtliche Prozessstoff in die Berufungsinstanz, so dass das Fehlen des Inhalts von Schriftsätzen im Tatbestand Zweifel an der Vollständigkeit i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 Hs. 2 ZPO wecken kann (vgl. Eichele/Hintz/Oberheim, a.a.O., Kap. D, Rn 188).
Das gilt auch, wenn es an einer § 313 Abs. 2 S. 2 ZPO genügenden Bezugnahme auf vorbereitende Schriftsätze fehlt, denn mit der Antragstellung und mündlichen Verhandlung erfolgt im Zweifel auch eine Bezugnahme auf die vorbereitenden Schriftsätze (vgl. BGH, Urt. v. 12.3.2004 – V ZR 257/03, NJW 2004, 1876, 1879).
"Eine Verengung des zweitinstanzlichen Prozessstoffs auf das aus dem erstinstanzlichen Urteil ersichtliche Parteivorbringen ergibt sich auch nicht aus § 314 ZPO, weil dem Urteilstatbestand im Hinblick auf schriftsätzlich angekündigtes Parteivorbringen keine negative Beweiskraft zukommt. Unabhängig hiervon kann der Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils den der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden Prozessstoff auch deshalb nicht begrenzen, weil das Berufungsverfahren nicht nur, wie das Revisionsverfahren, der Rechtsfehlerkontrolle, sondern gem. § 513 Abs. 1 Alt. 2 ZPO auch der Kontrolle und Korrektur fehlerhafter Tatsachenfeststellungen dient" (BT-Drucks 14/4722, S. 64; Hannich/Meyer-Seitz, § 513 Rn 1, 7, 12 f.). Dies setzt voraus, dass das Berufungsgericht schriftsätzlich angekündigtes entscheidungserhebliches Parteivorbringen berücksichtigen darf, das von dem erstinstanzlichen Gericht für unerheblich erachtet oder übersehen worden ist und das deshalb im Urteilstatbestand keine Erwähnung gefunden hat (Barth NJW 2002, 1702 f.; BGH, Urt. v. 27.9.2006 – VIII ZR 19/04, NJW 2007, 2414, 2416). Die in § 513 Abs. 1 Alt. 2 ZPO zum Ausdruck kommende Funktion der Berufung würde eine den berücksichtigungsfähigen Prozessstoff begrenzende Wirkung des erstinstanzlichen Urteils also selbst dann ausschließen, wenn man im Übrigen mit der bisherigen Rechtsprechung des BGH (zuletzt BGH, NJW-RR 1990, 1269) und des BVerwG (Beschl. v. 13.4.1989 – 1 B 21/89, juris) an der negativen Beweiskraft des Urteilstatbestands ohne Einschränkungen festhielte (BGH, Urt. v. 19.3.2004 – V ZR 104/03, NJW 2004, 2152, 2155 f.).
Neues Vorbringen einer Partei in einem nachgereichten, aber nicht nachgelassenen Schriftsatz gem. § 283 ZPO ist allerdings nicht in den Tatbestand des Urteils aufzunehmen (OLG Köln, Beschl. v. 1.7.1991 – 13 U 50/91, NJW-RR 1991, 1536).
Das bedeutet allerdings nicht, dass Vorbringen in einem nicht nachgelassen Schriftsatz gänzlich unbedeutsam ist. Denn das Gericht muss dieses zur Kenntnis nehmen, um zu prüfen, ob bei pflichtgemäßer Ermessensausübung die mündliche Verhandlung gem. § 156 ZPO (insbesondere zur Vermeidung eines Gehörsverstoßes) wieder eröffnet werden muss (vgl. BGH, Urt. v. 31.5.1988 – VI ZR 261/87, NJW 1988, 2302 f.). Das gilt sogar dann, wenn der Schriftsatz erst unmittelbar vor Urteilsverkündung eingereicht wird (vgl. BGH, Beschl. v. 7.4.2016 – I ZR 168/15, MDR 2016, 1111 f.).
Keine Beweiskraft besteht hinsichtlich widersprüchlicher Feststellungen. Das gilt auch, wenn "nur" die "Entscheidungsgründe" dem "Tatbestand" insofern widersprechen (vgl. BGH, Beschl. v. 17.12.2013 – VI ZR 230/12, NJW 2014, 1529) oder ein Widerspruch zwischen dem wiedergegebenem Tatbestand und einem konkret in Bezug genommenen Schriftsatz besteht (vgl. BGH, Urt. v. 16.12.2010 â^’ I ZR...