1. Allgemeines
Nach der Intention des Gesetzes kann die Berufung nur auf eine der folgenden Fallgruppen gestützt werden:
Rechtsfehler §§ 513 Abs. 1 Alt. 1, 546 |
Zweifel an Feststellungen §§ 513 Abs. 1 Alt. 2, 529 Abs. 1 Nr. 1 |
Neue Tatsachen §§ 513 Abs. 1 Alt. 2, 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 |
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- v.a. ein Verfahrens-fehler oder in Frage stellen eines tragenden Gesichts-punktes
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Der Berufungsgrund muss kausal für ein fehlerhaftes Urteil sein. Das ist bei materiellen Fehlern dann der Fall, wenn die richtige Anwendung des materiellen Rechts zu einem dem Berufungskläger günstigeren Recht führt und bei einem Verfahrensfehler, wenn die Möglichkeit einer dem Berufungskläger günstigeren Entscheidung nicht ausgeschlossen werden kann. Versteht sich diese Kausalität nicht von selbst, ist sie in der Berufungsbegründung darzustellen (vgl. Eichele/Hintz/Oberheim, a.a.O., Kap. G, Rn 45).
2. Berufungsrechtliche Rechtsfehler
Besonders praxisrelevant ist, dass auch Urteile, die die Ausübung eines richterlichen Ermessens voraussetzen (z.B. Schmerzensgeld oder die Schätzbefugnis) in der Berufungsinstanz voll überprüft werden können, ebenso wie die Auslegung von Willenserklärungen. In diesem Bereich können zwar auch revisible Rechtsfehler auftreten (vgl. Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, 3. Aufl., § 37 Rn 72 ff; 100 ff.), die berufungsrechtliche Kontrolle setzt allerdings deutlich früher ein. Vertragsauslegungen, die rechtlich möglich, aber nicht überzeugend sind, können und müssen vom Berufungsgericht korrigiert werden (vgl. BGH, Urt. v. 14.7.2004 – VIII ZR 164/03, NJW 2004, 2751), ebenso Schmerzensgeldentscheidungen (BGH, Urt. v. 28.3.2006 – VI ZR 46/05, NJW 2006, 1589, 1561) oder Haftungsabwägungen und sonstige Ermessensausübungen (§ 17 StVG, § 254 BGB, vgl. OLG Oldenburg, Urt. v. 13.7.2011 â^’ 4 U 16/11, NJW-RR 2012, 97 f.; Eichele/Hintz/Oberheim, a.a.O., Kap. G, Rn 64).
Im Bereich der materiell-rechtlichen Überprüfung ist das Berufungsgericht nicht an die geltend gemachten Berufungsgründe gebunden. D.h. bei einer wirksamen Berufungsrüge wird das gesamte Urteil auch auf solche materiellen Rechtsfehler geprüft, die nicht gerügt wurden, denn die rechtliche Würdigung des tatsächlichen Parteivorbringens ist Aufgabe des Gerichts (vgl. BGH, Urt. v. 8.6.2004 – X ZR 283/02, NJW 2004, 3420 f.). Geht es um einen Rechtsfehler in verfahrensrechtlicher Hinsicht, gibt es von Amts wegen zu beachtende Verfahrensvorschriften, aber auch solche, die nur auf entsprechende Rüge gem. §§ 529 Abs. 2 S. 1, 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 ZPO beachtet werden (wohl h.A. BGH, Urt. v. 11.5.2011 â^’ VIII ZR 42/10, NJW 2011, 2736 ff.). Ein entsprechender Rechtssatz, demzufolge auch bei einem Verfahrensfehler das gesamte Verfahren von Amts wegen auf seine Ordnungsgemäßheit hin überprüft wird (vgl. BGH, Urt. v. 12.3.2004 – V ZR 257/01, NJW 2004, 1876), ist vereinzelt geblieben: "Ob ein Verfahrensfehler vorliegt, ist allein aufgrund des materiell-rechtlichen Standpunkts des Erstrichters zu beantworten, und zwar auch dann, wenn dieser Standpunkt verfehlt ist und das Berufungsgericht ihn nicht teilt" (BGH, Urt. v. 26.10.2011 – VIII ZR 222/10, NJW 2012, 304).
3. Zweifel an den erstinstanzlichen Feststellungen
a) Grundsätzliche Bindung
In ständiger Rechtsprechung gilt: "Gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Beweisaufnahme zwingend geboten" (BGH NJW-RR 2009, 1291 = MDR 2009, 1126 Rn 5; GuT 2012, 486; GuT 2012, 181; BGH, Urt. v. 25.1.2013 – V ZR 147/12, NJW 2014, 550, 552).
Hinweis:
"Sieht das Berufungsgericht eine von dem Gericht des ersten Rechtszugs getroffene entscheidungserhebliche Tatsachenfeststellung als verfahrensfehlerhaft an, weil die Vernehmung eines Zeugen unterblieben ist, so entfällt die Bindung an die Feststellung, und das Berufungsgericht hat nicht nur den Zeugen zu vernehmen, sondern alle erhobenen Beweise insgesamt selbst zu würdigen" (BGH, Urt. v. 25.10.2013 – V ZR 147/12, NJW 2014, 550).
"Zweifel im Sinne der Regelung in § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO liegen schon dann vor, wenn aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt" (BGH, Urt. v. 3.6.2014 – VI ZR 394/13, NJW 2014, 2797 f.)
"Die Anforderungen dürfen nicht überspannt werden. Es genügt, wenn das Berufungsgericht aufgrund konkreter Anhaltspunkte in einer rational nachvollziehbaren Weise zu ‚vernünftigen‘ Zweifeln kommt, d.h., zu Bedenken, die so gewichtig sind, dass sie nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden können" (vgl. Meyer-Seitz, § 529 Rn 29; Begr. des Rechtsausschusses, BT-Drucks 14/6036, S. 124; BGH, Urt. v. 8.6.2004 – VI ZR 230/03, NJW 2004, 2828, 2830).
In jedem Fall ist aber erforderlich, dass die Zweifel eine Neuf...