Gemäß § 51 Abs. 1 SGB I kann der zuständige Leistungsträger eigene Ansprüche gegen den Leistungsberechtigten gegen pfändbare Geldleistungsansprüche des Leistungsberechtigten aufrechnen. § 51 Abs. 2 SGB I erweitert die Aufrechnungsmöglichkeit für Ansprüche auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen und Beitragsansprüche bis auf die Hälfte einer laufenden Geldleistung, soweit dadurch keine Hilfebedürftigkeit i.S.v. SGB II oder SGB XII eintritt. Nach beiden Vorschriften wäre eine Aufrechnung gegen Arbeitslosengeld II nicht möglich. Für das SGB II trifft aber § 43 SGB II eine Sonderregelung. Nach der von 1.4.2011 bis 31.7.2016 geltenden Fassung konnten die Jobcenter gegen Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Ansprüchen auf Darlehensrückzahlung (nach § 42 SGB II), auf Erstattung vorläufig (nach § 43 SGB I oder § 328 SGB III) oder zu Unrecht (nach § 50 SGB X) erbrachter Leistungen und auf Kostenersatz (nach §§ 34, 34a SGB II) aufrechnen, und zwar je nach Art des aufgerechneten Anspruchs i.H.v. 10 % oder 30 % des jeweils maßgeblichen Regelbedarfs, insgesamt jedoch auch bei mehreren Aufrechnungen nicht mehr als 30 %. Weil durch die Aufrechnung nur mehr geringere Leistungen als das vom Gesetzgeber konkretisierte Existenzminimum ausgezahlt werden, ist die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung umstritten (für Verfassungswidrigkeit Conradis, LPK-SGB II, § 43 Rn 23; Merold ZFSH/SGB 2016, 293–298 für Verfassungsmäßigkeit Greiser, in: Eicher, SGB II, § 43 Rn 23; differenzierend Kallert, in: Gagel, SGB II/SGB III, § 43 Rn 3–3c; zur parallelen Problematik bei Sanktionen s. einerseits Nešković/Erdem SGb 2012, 134–140 sowie 326–329, Nešković info also 2013, 205–206 und andererseits Burkiczak SGb 2012, 324–326 sowie Berlit info also 2013, 195–205).
Mit Urteil vom 9.3.2016 (B 14 AS 20/15 R) hält das BSG die Vorschrift für verfassungsgemäß: Der Gesetzgeber habe das Recht, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auszugestalten; hierzu gehörten auch die Regelung von Leistungsvoraussetzungen, -ausschlüssen, -minderungen und -modalitäten. Im Einzelnen halte sich die Aufrechnung i.H.v. 30 % des maßgebenden Regelbedarfs im verfassungsrechtlichen Rahmen, weil auch noch während der Aufrechnung persönliche Umstände des Leistungsberechtigten berücksichtigt werden könnten und sichergestellt sei, dass den Betroffenen stets die unerlässlichen Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung stünden. In erster Linie nennt das BSG hier das Entschließungsermessen des Jobcenters, ob und wie lange aufgerechnet werde. Das Jobcenter könne hier z.B. das Ausmaß der Vorwerfbarkeit für die Veranlassung der Erstattungsforderung, die Höhe der Erstattungsforderung und die Bereitschaft zu sonstigen Tilgungen, frühere Minderungen, auch aus anderen Gründen, und das Vorhandensein minderjähriger Kinder in der Bedarfsgemeinschaft berücksichtigen. Auch könne die Aufrechnung vorzeitig beendet werden. Schließlich könne sonstigen Problemen mit Darlehensleistungen oder mit dem Erlass des Rückzahlungsanspruchs begegnet werden.
Darüber hinaus hat das BSG Einzelfragen der intertemporalen Geltung von § 43 SGB II, des Ermessens und der inhaltlichen Bestimmtheit von Aufrechnungs-VA beantwortet: Erstens gelte § 43 SGB II – mit Ausnahme von Darlehensrückzahlungsansprüchen, für welche die Sonderregel des § 42a Abs. 2 S. 2 SGB II entgegenstehe – auch für die Aufrechnung von Forderungen, die vor dem 1.4.2011 entstanden seien. Zweitens genüge es den Anforderungen an die Bestimmtheit, wenn in einem Verfügungssatz die prozentuale Höhe der Aufrechnung bestimmt wird, die in eine weiteren Verfügungssatz beziffert wird. Schließlich sei nicht erforderlich, dass im Aufrechnungs-VA selbst bereits ein Endzeitpunkt der Aufrechnung angegeben wird.
Praxishinweis:
Vor Gerichten dürfte nun am ehesten die Strategie Erfolg haben, die Ermessensentscheidung der Jobcenter anzugreifen.
Seit 1.8.2016 ist § 43 SGB II neu gefasst (siehe hierzu und zu weiteren Änderungen des SGB II zum 1.8.2016 Berlit info also 2016, 195, hinsichtlich der Änderungen zum Verfahrensrecht: Staiger info also 2016, 208). Hiernach ist eine Kumulation mehrerer Aufrechnungen stets nur bis zur Höchstgrenze von 30 % zulässig. Die Aufrechnung ist ausgeschlossen, sofern der Auszahlungsanspruch bereits um 30 % des maßgeblichen Regelbedarfs gemindert ist. Ist die Minderung geringer, kann nur bis zu dieser Höhe aufgerechnet werden.