In seinem Beschluss vom 27.6.2018 (1 StR 616/17) hat der BGH noch einmal zum Begriff der Eigenmacht i.S.d. § 231 Abs. 2 StPO Stellung genommen. Zugrunde liegt dem Beschluss etwa folgendes Verfahrensgeschehen: In der Hauptverhandlung vom 20.6.2017 erschien der Angeklagte R.E. nicht, da er am 14.6.2017 in der Türkei in polizeilichen Gewahrsam genommen worden war. Er war in die türkische Provinz B. geflogen, um dort seine am 8.6.2017 auf die Intensivstation eines Krankenhauses eingewiesene Mutter zu besuchen und wollte am 16.6.2017 und damit vor dem nächsten Verhandlungstermin nach Deutschland zurückkehren. Der Angeklagte war seit November 2011 mindestens 48-mal in die Türkei gereist. Auch seit 2015 hatte er sich mehrfach in der Türkei aufgehalten und war unbehelligt wieder ausgereist. Das LG unterbrach die Hauptverhandlung und bestimmte einen Fortsetzungstermin auf den 22.6.2017, an dem der Angeklagte R.E. aufgrund seines noch andauernden Freiheitsentzugs nicht erscheinen konnte. Der türkische Rechtsanwalt des Angeklagten bestätigte telefonisch, dass der Angeklagte am 14.6.2017 in polizeilichen Gewahrsam genommen worden sei. Nach Verlesung verschiedener Vermerke über Gespräche mit Behörden, einer Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für die Provinz B. sowie teilweiser Übersetzung des ärztlichen Befunds der Mutter durch den Dolmetscher entschied das LG, dass in Abwesenheit des Angeklagten R.E. weiter verhandelt werde (§ 231 Abs. 2 StPO). Der Angeklagte sei der Verhandlung eigenmächtig fern geblieben, da es für ihn vorhersehbar gewesen sei, dass er in der Türkei verhaftet werden könnte. Er sei im Jahr 1995 aus politischen Gründen nach Deutschland gekommen und habe einen Asylantrag gestellt. Aufgrund der politischen Lage insbesondere in der Provinz B. hätte er erkennen können, dass er sich einem Inhaftierungsrisiko aussetzen würde. Demgegenüber sei die Erkrankung seiner Mutter, die keinen lebensbedrohlichen Charakter habe, nicht geeignet, das Verhalten des Angeklagten zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Es lebten noch weitere elf Geschwister in der Türkei. Der Angeklagte habe seine Reisepläne dem Gericht auch nicht mitgeteilt. Eine Anwesenheit des Angeklagten sei auch nach dem Ermessen der Strafkammer nicht erforderlich, da die Beweisaufnahme weitgehend abgeschlossen sei und die Schlussvorträge kurz bevor stünden. Den im Anschluss an diese Entscheidung gestellten Antrag der Verteidigung, die Verhandlung auszusetzen, lehnte das LG ab. Im Verlauf der weiteren Hauptverhandlung verkündete es zudem mehrere ablehnende Beweisbeschlüsse und beschränkte die Strafverfolgung gegenüber beiden am Verfahren beteiligten Angeklagten auf Antrag der Staatsanwaltschaft teilweise nach § 154a StPO.
Nach Auffassung des BGH hat die Fortsetzung der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten gegen §§ 230 Abs. 1, 231 Abs. 2 StPO verstoßen (§ 338 Nr. 5 StPO). Der BGH verweist auf seine Rechtsprechung zum Begriff der Eigenmacht (s. u.a. BGHSt 37, 249, 351; weitere Nachw. bei Burhoff, HV, Rn 3108). Die könne auch vorliegen, wenn ein Angeklagter während einer laufenden Hauptverhandlung in Deutschland im Ausland vorsätzlich eine Straftat von Gewicht begehe, bei deren Entdeckung er mit seiner Verhaftung rechnen müsse, oder, wenn ein in Deutschland vor Gericht stehender Angeklagter, der schon früher eine Straftat entsprechenden Gewichts im Ausland begangen hat, wegen der er – wie er wisse – auch mit seiner Verhaftung im Land des Tatorts rechnen muss, sich während des Laufs der gegen ihn gerichteten Hauptverhandlung ohne Not in jenes Land und dort in eine Situation mit hohem Verhaftungsrisiko begibt (BGH NStZ-RR 2008, 285).
Eine damit vergleichbare Situation habe der Angeklagte jedoch nicht provoziert, da er nicht damit rechnen konnte, in der Türkei in Gewahrsam genommen bzw. verhaftet zu werden. Dazu verweist der BGH darauf, dass der Angeklagte ausweislich seines Reisepasses seit 2011 insgesamt 48-mal in die Türkei ein- und wieder ausgereist sei. Es habe daher für ihn kein Anlass bestanden, von einem möglichen Verhaftungsrisiko in der Türkei auszugehen. Dem stehe auch nicht entgegen, dass der Angeklagte im Jahr 1995 in Deutschland aufgrund politischer Verfolgung Asyl erhalten hat und die politische Lage in der Türkei seit 2015 angespannt ist. Der Angeklagte sei seit 2015 einige Male unbehelligt nach B. zu seiner Familie gereist und habe daher davon ausgehen können, dass sich an diesem Zustand auch 2017 nichts geändert hatte. Der Angeklagte habe auch einen gewichtigen Grund für die Reise gehabt. Seine Mutter sei erkrankt und sei auf die Intensivstation eines Krankenhauses eingewiesen worden. Es habe sich zwar herausgestellt, dass die Mutter tatsächlich nicht lebensbedrohlich erkrankt war. Es sei dem Angeklagten jedoch nicht zuzumuten gewesen, erst abzuwarten und dann möglicherweise nicht rechtzeitig im Krankenhaus erscheinen zu können. Daran ändere – so der BGH – auch die Tatsache nichts, dass der Angeklagte elf Geschwister hat, die sich um die Mutter...