Das BSG hatte am 30.1.2020 – B 2 U 2/18 R zu entscheiden, ob der Kläger einen versicherten Wegeunfall (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII) erlitten hat. Dieser war in der Wohnung seiner Eltern in D. polizeilich gemeldet und bewohnte dort ein Zimmer, in dem er seine gesamte Habe untergebracht hatte. Er war auch in D. als Auslieferungsfahrer beschäftigt. Nach Feierabend fuhr er i.d.R. zunächst in die elterliche Wohnung und nahm dort eine Mahlzeit ein. Anschließend suchte er regelmäßig montags bis freitags seine Freundin in M. auf und übernachtete in ihrer Wohnung, um dann am Folgetag von dort aus direkt mit seinem Pkw zu seiner Arbeitsstätte in D. zu fahren. Der Weg von der Meldeadresse zur Arbeitsstätte betrug 2 km, der Weg von der Arbeitsstätte zur Wohnung der Freundin 44 km. Am Unfalltag verunglückte der Kläger mit seinem Pkw auf dem unmittelbaren Weg von der Wohnung seiner Freundin zu seiner Arbeitsstätte in D, wo er seine Tätigkeit aufnehmen wollte. Dabei zog er sich zahlreiche Verletzungen zu. Das Begehren des Klägers, das Ereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen, hatte in der Berufungsinstanz Erfolg. Die hiergegen eingelegte Revision der Beklagten wies das BSG als unbegründet zurück.
Das BSG hat am 30.1.2020 in einem weiteren Verfahren mit wesentlich gleich gelagertem Sachverhalt ebenfalls zugunsten des Klägers entschieden, B 2 U 20/18 R.
Der Kläger hat einen "Unfall" i.S.d. § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII erlitten, als er am auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte verunglückte und sich hierbei verletzte. Zum Zeitpunkt des Unfalls war er gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII als Auslieferungsfahrer "Beschäftigter" und damit grds. "Versicherter " i.S.d. gesetzlichen Unfallversicherung. Ferner legte der Kläger im Unfallzeitpunkt den unmittelbaren Weg nach dem Ort der Tätigkeit objektiv zurück und seine Handlungstendenz war darauf auch subjektiv ausgerichtet.
Hinsichtlich des Wegeunfalls legt § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII den Ort der versicherten Tätigkeit als Zielpunkt fest, lässt aber zugleich den Startpunkt offen, sodass anstelle der Wohnung auch ein anderer (sog. dritter) Ort Ausgangspunkt sein kann, sofern sich der Versicherte dort mindestens zwei Stunden aufgehalten hat. An dieser Zwei-Stunden-Grenze hält das Gericht, auch aus Gründen der Rechtssicherheit, fest.
In ausdrücklicher Abgrenzung zu früherer, allerdings teilweise uneinheitlicher Rechtsprechung des Senats entscheidet das Gericht nunmehr: Wenn, wie hier, die konkrete Verrichtung ("Sichfortbewegen" auf dem direkten Weg zum Ort der versicherten Tätigkeit) ihren Grund in der betrieblichen Handlungstendenz hat, sei nicht zusätzlich – im Rahmen eines räumlichen Ansatzes – einschränkend zu fordern, dass der Weg zum Ort der Tätigkeit, den Versicherte nicht von ihrem Lebensmittelpunkt (im Sinne eines häuslichen Bereichs) aus antreten, unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg zwischen dem häuslichen Bereich und dem der Tätigkeit steht.
Es komme vielmehr bei einem Unfall auf dem Weg vom dritten Ort
- weder auf einen mathematischen oder wertenden Angemessenheitsvergleich der Wegstrecken nach der Verkehrsanschauung
- noch – im Rahmen einer Gesamtschau – auf (etwaige betriebsdienliche) Motive für den Aufenthalt am dritten Ort an;
- ebenso unerheblich sind der erforderliche Zeitaufwand zur Bewältigung der verschiedenen Wege und deren Beschaffenheit bzw. Zustand, das benutzte Verkehrsmittel oder das erhöhte, verminderte bzw. annähernd gleichwertige Unfallrisiko.
Entscheidend ist vielmehr, ob der Weg vom dritten Ort zur Arbeitsstätte wesentlich von der subjektiven Handlungstendenz geprägt ist, den Ort der Tätigkeit aufzusuchen und ob dies in den realen Gegebenheiten objektiv eine Stütze findet, d.h. objektivierbar ist.
Auch unter Gleichbehandlungsaspekten (Art. 3 Abs. 1 GG) lässt sich nach Auffassung des BSG nicht rechtfertigen, dass Personen, die im selben Haus übernachten und am nächsten Morgen denselben Arbeitsweg antreten, nur dann versichert sind, wenn sie dort als Bewohner ihren Lebensmittelpunkt haben und nicht lediglich Besucher waren.
Hinweis:
Versichert beim Wegeunfall nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ist allerdings grds. nur der direkte Weg nach und von dem Ort der versicherten Tätigkeit. Wird der Weg vom Versicherten zur Erledigung von eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten unterbrochen, besteht hierbei kein Versicherungsschutz. Dieser lebt ggf. bei Wiederaufnahme des Wegs von oder zu dem Ort der Tätigkeit erneut auf (s. näher Sartorius ZAP F. 18, 1602 ff. m.w.N. In Bestätigung dieser Rechtsprechung hat das BSG ebenfalls am 30.1.2020 entschieden, das auf dem Weg vorgenommene Betanken eines privaten Pkw sei generell nicht versichert (B 2 U 9/18 R).
Von Richter am Arbeitsgericht Wolfgang Gundel, Freiburg, und Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeits- und für Sozialrecht Dr. Ulrich Sartorius, Breisach
ZAP F. 17 R, S. 1243–1264