1. Einladung schwerbehinderter Menschen zum Vorstellungsgespräch
Über die Verpflichtung öffentlicher Arbeitgeber, schwerbehinderte, nicht offensichtlich fachlich ungeeignete Bewerber:innen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen (§ 165 S. 3 SGB IX) und darüber, dass der Verstoß gegen diese Verpflichtung die Vermutung der Benachteiligung wegen der Behinderung i.S.v. § 22 AGG begründen und einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG auslösen kann, haben wir zuletzt in ZAP F 17 R, 1011 f. berichtet.
Durch Urt. v. 26.11.2020 (8 AZR 59/20, NZA 2021, 635) hat das BAG insoweit seine bisherige Rechtsprechung bestätigt und erneut darauf abgestellt, dass Bewerber, die ihre Schwerbehinderung bei der Behandlung der Bewerbung durch den Arbeitgeber berücksichtigt wissen wollen, diesen über die Behinderung rechtzeitig in Kenntnis setzen müssen, es sei denn, der Arbeitgeber verfügt ausnahmsweise bereits über diese Information. Eine hinreichende Unterrichtung liegt dann vor, wenn die entsprechende Mitteilung so in den Empfangsbereich des Arbeitgebers gelangt ist, dass es diesem möglich ist, die Schwerbehinderung der Bewerber zur Kenntnis zu nehmen; die Mitteilung muss dem Arbeitgeber entsprechend § 130 BGB zugehen.
In Klarstellung zu früherer Rechtsprechung hält das BAG nunmehr fest, dass die in § 165 S. 3 SGB IX bestimmte Verpflichtung zur Einladung zum Vorstellungsgespräch zu den Arbeitgeberpflichten gehört, mit denen kein individueller Anspruch bzw. kein individuelles Recht der schwerbehinderten Bewerber auf eine Einladung korrespondiert, auf den/das diese verzichten können. Dies leitet das Gericht aus der Auslegung des § 165 S. 3 SGB IX her unter Berücksichtigung des Wortlauts, des systematischen Zusammenhangs und der Entstehungsgeschichte der Bestimmung. Soweit das BAG in einer früheren Entscheidung (Urt. v. 24.1.2018 – 8 AZR 188/12, NZA 2013, 896 Rn 46) ausgeführt hat, die inhaltsgleiche damalige Vorschrift des § 82 S. 2 SGB IX gebe dem einzelnen Bewerber einen „Individualanspruch” auf Einladung, hält es daran nicht fest.
Allerdings würde eine etwaige (rechtlich zwar unwirksame) Verzichtserklärung der Bewerber nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium) es diesen verwehren, einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG erfolgreich geltend zu machen.
In dem entschiedenen Fall stritten die Parteien darüber, ob die Klägerin in einem Schreiben an den Beklagten auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch verzichtet habe. Die Vorinstanzen sahen das so und wiesen die Klage auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG ab. Dem folgt das BAG nicht, weil es die entsprechende E-Mail der Klägerin, nach einer Auslegung gem. § 133 BGB, hiervon abweichend interpretiert. Bei der Erklärung der Klägerin handelt es sich um eine nichttypische Erklärung, die in erster Linie von den Tatsachengerichten auszulegen ist. Das Revisionsgericht kann nur überprüfen, ob das LAG Auslegungsregeln verletzt, gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Tatsachen unberücksichtigt gelassen hat. Das BAG kann aber dann nichttypische Erklärungen selbst auslegen, wenn das Urteil des LAG – wie vorliegend – nicht erkennen lässt, welche Umstände bei der Auslegung berücksichtigt wurden.
Das BAG sprach demnach der Klägerin eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG i.H.v. 1,5 Bruttomonatsverdiensten zu.
Hinweis:
Nach § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr. Auf diesen Zusatzurlaub sind die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs anzuwenden; der Zusatzurlaubsanspruch nach § 208 Abs. 1 S 1 SGB IX teilt demnach das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs, BAG, Urt. v. 22.1.2019 – 9 AZR 45/16, Rn 24. Arbeitgeber sind gehalten, schwerbehinderte Arbeitnehmer auf deren Zusatzurlaubsanspruch hinzuweisen und konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass die Betreffenden tatsächlich in der Lage sind, ihren Urlaub zu nehmen (s. etwa LAG Niedersachsen, Urt. v. 16.1.2019 – 2 Sa 567/18, Rn 95 ff.). Haben Arbeitgeber jedoch keine Kenntnis von der Schwerbehinderung, soll keine Verpflichtung bestehen, Arbeitnehmer – anlasslos und gleichsam prophylaktisch – auf den etwaigen Anspruch auf Zusatzurlaub aufmerksam zu machen, so LAG Rheinland-Pfalz (Urt. v. 14.1.2021 – 5 Sa 267/19, ASR 2021, 159), allerdings wurde die zugelassene Revision eingelegt und ist anhängig beim BAG, Az. 9 AZR 143/21.
2. Entgelttransparenzgesetz – widerlegbare Vermutung der Diskriminierung
Mit Urt. v. 21.1.2021 (8 AZR 488/19, NZA 2021, 1011 ff.) hat das BAG erstmalig zum Entgelttransparenzgesetz entschieden. Es lag folgender Sachverhalt vor:
Die Klägerin ist bei der beklagten Arbeitgeberin als Abteilungsleiterin beschäftigt. Sie erhielt im August 2018 von der Beklagten eine Auskunft nach §§ 10 ff. EntgTranspG, aus der u.a. das Vergleichsentgelt der bei der Beklagten beschäftigten männlichen Abteilungsleiter hervorgeht. Angegeben w...