Drei Jahre nach der ersten Entscheidung zum Gebot fairen Verhandelns hatte der Sechste Senat Gelegenheit die Grundsätze weiter zu präzisieren (BAG, Urt. v. 24.2.2022 – 6 AZR 333/21, NZA 2022, 779).
Vor dem Sechsten Senat stritten die Parteien über den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses nach Abschluss eines Aufhebungsvertrags. Am 22.11.2019 führten der Geschäftsführer und der spätere Prozessbevollmächtigte der Beklagten, der sich als RA für Arbeitsrecht vorstellte, im Büro des Geschäftsführers ein Gespräch mit der als Teamkoordinatorin Verkauf im Bereich Haustechnik beschäftigten Klägerin. Sie erhoben gegenüber der Klägerin den Vorwurf, diese habe unberechtigt Einkaufspreise in der EDV der Beklagten abgeändert bzw. reduziert, um so einen höheren Verkaufsgewinn vorzuspiegeln. Die Klägerin unterzeichnete nach einer etwa zehnminütigen Pause, in der die drei anwesenden Personen schweigend am Tisch saßen, den von der Beklagten vorbereiteten Aufhebungsvertrag. Dieser sah u.a. eine einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.11.2019 vor. Die weiteren Einzelheiten des Gesprächsverlaufs sind streitig geblieben. Mit ihrer Klage hat die Klägerin u.a. den Fortbestand des ArbV über den 30.11.2019 hinaus geltend gemacht, nachdem sie den Aufhebungsvertrag mit Erklärung vom 29.11.2019 wegen widerrechtlicher Drohung angefochten hatte. Sie hat behauptet, ihr sei für den Fall der Nichtunterzeichnung des Aufhebungsvertrags die Erklärung einer außerordentlichen Kündigung sowie die Erstattung einer Strafanzeige in Aussicht gestellt worden. Ihrer Bitte, eine längere Bedenkzeit zu erhalten und Rechtsrat einholen zu können, sei nicht entsprochen worden. Damit habe die Beklagte gegen das Gebot fairen Verhandelns verstoßen.
Während das ArbG der Klage stattgab, wiesen LAG und BAG die Klage ab. Ein Aufhebungsvertrag kann unter Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns zustande gekommen sein. Ob das der Fall ist, ist anhand der Gesamtumstände der konkreten Verhandlungssituation im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden. Maßgebend sind die Maßstäbe aus der Entscheidung des BAG v. 7.2.2019 (6 AZR 75/18, NZA 2019, 688, hierzu die Verfasser ZAP F. 17 R, 963 ff.). Allein der Umstand, dass der Arbeitgeber den Abschluss eines Aufhebungsvertrags von der sofortigen Annahme seines Angebots abhängig macht, stellt jedoch für sich genommen keine Pflichtverletzung gem. § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB dar, auch wenn dies dazu führt, dass dem Arbeitnehmer weder eine Bedenkzeit verbleibt noch der Arbeitnehmer erbetenen Rechtsrat einholen kann.
Auch die Anfechtung hat keinen Erfolg. Selbst wenn der klägerseitig geschilderte Gesprächsverlauf zugunsten der Klägerin unterstellt werde, fehle es an der Widerrechtlichkeit der behaupteten Drohung. Ein verständiger Arbeitgeber durfte im vorliegenden Fall sowohl die Erklärung einer außerordentlichen Kündigung als auch die Erstattung einer Strafanzeige ernsthaft in Erwägung ziehen.
Ebenso ist das LAG auf der Grundlage der vom Senat unter Berücksichtigung des in der Revisionsinstanz nur eingeschränkten Prüfungsumfangs zutreffend zu dem Schluss gekommen, dass die Beklagte nicht unfair verhandelt und dadurch gegen ihre Pflichten aus § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB verstoßen hat. Die Entscheidungsfreiheit der Klägerin wurde nicht dadurch verletzt, dass die Beklagte den Aufhebungsvertrag entsprechend § 147 Abs. 1 S. 1 BGB nur zur sofortigen Annahme unterbreitet hat und die Klägerin über die Annahme deswegen sofort entscheiden musste.
Hinweise:
Frei nach Max und Moritz „... und schon folgt der zweite Streich!”: Entgegen den Zitaten, mit denen das BAG uns glauben machen will, dass das Gebot fairen Verhandelns bereits zuvor Gegenstand der Rechtsprechung gewesen sei, hat der Sechste Senat eine neue Rechtsfigur erfunden. „Fair” ist eine Leerformel und war bisher kein Rechtsbegriff.
Mit der nun gefundenen Einschränkung „Allein der Umstand, dass der Arbeitgeber den Abschluss eines Aufhebungsvertrags von der sofortigen Annahme seines Angebots abhängig macht, stellt für sich genommen keine Pflichtverletzung gem. § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB dar”, hat das BAG wieder Boden unter den Füßen gewonnen. Es hat bekannte Maßstäbe angelegt. Nicht „jeder Druck” und auch nicht „jede Überrumpelung” verstoßen gegen das Gebot fairen Verhandelns. Vielmehr bedarf es stets eines Verstoßes gegen die jedem Vertrag innewohnenden Nebenpflichten, integre Rechtsgüter zu schützen – wie dies aus § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB folgt. Die Begründung „Die Entscheidungsfreiheit der Klägerin wurde nicht dadurch verletzt, dass die Beklagte den Aufhebungsvertrag entsprechend § 147 Abs. 1 S. 1 BGB nur zur sofortigen Annahme unterbreitet hat und die Klägerin über die Annahme deswegen sofort entscheiden musste, ihr also weder Bedenkzeit verblieb noch sie erbetenen Rechtsrat einholen konnte”, befindet sich auf der Linie ständiger Rechtsprechung (vgl. auch Fischinger NJW 2022, 1973 f.; Kühnel ArbRB 2022, 196...