1. Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen
Mehrere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus den Jahren 2018 und 2019 haben das Urlaubsrecht in Deutschland wesentlich umgestaltet (s. etwa die Übersicht bei Maaß, ZAP F. 17, 1359). In zwei Urteilen hat das BAG ergänzend zum Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen nach § 125 SGB IX Abs. 1 a.F. bzw. (ab dem 1.1.2018) nach § 208 Abs. 1 SGB IX entschieden. Auszugehen ist auch hier grds. von der aktuellen Rechtslage beim gesetzlichen Mindesturlaub i.S.d. §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG:
Dieser beläuft sich nach § 3 Abs. 1 BUrlG über mind. 24 Werktage (bei einer 6-Tage-Woche, also 20 Tage bei einer 5-Tage-Woche) und muss grds. nach § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung auf das nächste Kalenderjahr ist nach S. 2 der Vorschrift nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen, aber auch dann nur zeitlich begrenzt auf den 31. März des Folgejahres; andernfalls erlischt er (§ 7Abs. 3 S. 3 BurlG).
Jedoch setzt die Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG bei einer mit Art. 7 der EG-Richtlinie 2003/88 konformen Auslegung grds. voraus, dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage sind, ihren bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Hierzu muss er Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, ihren Urlaub anzutreten und ihnen klar und rechtzeitig mitzuteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder des Übertragungszeitraums verfällt, wenn sie ihn nicht beantragen. Den Arbeitgeber trifft insoweit die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Erfüllung der hieraus abgeleiteten Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers ist grds. Voraussetzung für das Eingreifen des urlaubsrechtlichen Fristenregimes (s. BAG, Urt. v. 19.2.2019 – 9 AZR 423/16, NZA 2019, 977 = NJW 2019, 2643 Rn 39 ff.).
Hat der Arbeitgeber diesen Mitwirkungsobliegenheiten nicht entsprochen, tritt der am 31. Dezember des Urlaubjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 S. 1 und Abs. 3 BUrlG. Der Arbeitgeber kann deshalb das uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren nur dadurch vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt (s. BAG, a.a.O.).
Der Anspruch schwerbehinderter Menschen auf Zusatzurlaub nach § 125 SGB IX bzw. § 208 SGB IX unterliegt zwar nicht den unionsrechtlichen Vorgaben, denn der nationale Gesetzgeber kann Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der EG-Richtlinie 2003/88 und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen, frei regeln. Die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs sind jedoch nach dem Grundsatz der urlaubsrechtlichen Akzessorietät auf den Anspruch schwerbehinderter Menschen auf Zusatzurlaub anzuwenden (s. bereits BAG, Urt. v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, NZA 2010, 810 Rn 66 ff.). Damit teilt der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen – vorbehaltlich nach § 13 BUrlG zulässiger kollektivrechtlicher oder vertraglicher Vereinbarung – grds. das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs (BAG, Urt. v. 10.3.2020 – 9 AZR 109/19 Rn 11, NZA 2020, 1255). Eine tarifvertragliche oder arbeitsvertragliche Abweichung von der Mitwirkungsobliegenheit ist aber nach Art. 7 ArbeitszeitRL i.V.m. Art. 31 Abs. 2 GrCh unionsrechtlich ausgeschlossen und verstieße wohl auch gegen die unionsrechtskonforme Auslegung des § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG.
a) Grenze der Aufforderungs- und Handlungsobliegenheit
Durch Urt. v. 30.11.2021 – 9 AZR 143/21 hat das BAG entschieden, dass die Befristung des Zusatzurlaubsanspruchs schwerbehinderter Menschen nach § 208 Abs. 1 SGB IX – ebenso wie der Mindesturlaub nach dem BUrlG – nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig ist, wenn es dem Arbeitgeber unmöglich war, Arbeitnehmer durch seine Mitwirkung in die Lage zu versetzen, den Zusatzurlaubsanspruch zu realisieren. Solche Unmöglichkeit besteht, wenn der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung der Arbeitnehmer hat und diese auch nicht offenkundig ist. Der Anspruch auf Zusatzurlaub verfällt dann mit Ablauf des Urlaubsjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums, wenn mangels Kenntnis bzw. Offenkundigkeit kein Anlass besteht, auf etwaigen Zusatzurlaub hinzuweisen und die Arbeitnehmer aufzufordern, diesen ggf. in Anspruch zu nehmen (s. Rn 20). Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitgeber die Beweislast für die Tatsachen, aus denen sich ergeben soll, dass ihm die Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten unmöglich war. Beruft er sich darauf, dass er die Schwerbehinderung weder kannte no...