1. Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG (ne bis in idem)
Nach Auffassung des BVerfG verstößt § 362 Nr. 5 StPO gegen Art. 103 Abs. 3 GG. Dieses grundrechtsgleiche Recht verbietet dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Grundrechtsträgers aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Damit sei § 362 Nr. 5 StPO nicht vereinbar.
Der Grundsatz des Art. 103 Abs. 3 GG, dass niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden darf (ne bis in idem), beschreibe das Prinzip des Strafklageverbrauchs, das Strafgerichte und Strafverfolgungsorgane als Verfahrenshindernis von Amts wegen in jedem Stadium des Strafverfahrens zu beachten haben. Es handle sich um ein verfassungsrechtliches Verbot. Der gewährte Schutz stehe bereits der erneuten Strafverfolgung entgegen. Er entfalte gegenüber dem Gesetzgeber keine andere Wirkung, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schaffe. Das Verbot mehrfacher Strafverfolgung wäre praktisch wirkungslos, wenn die einfachgesetzliche Ausgestaltung als Wiederaufnahmeverfahren eine erneute Strafverfolgung und ggf. Verurteilung ermöglichen könnte.
Art. 103 Abs. 3 GG gewähre dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung sei absolut. Der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vertrauensschutz gelte ausschließlich für strafrechtliche Verfahren. Dieser weiterreichende Vertrauensschutz beruhe darauf, dass ihm unbedingter Vorrang gegenüber den grundsätzlich berechtigten Korrekturinteressen zukommt, die der Gesetzgeber ansonsten berücksichtigen könnte. Art. 103 Abs. 3 GG stelle auch gegenüber dem das Wiederaufnahmerecht gestaltenden Gesetzgeber ein absolutes und abwägungsfestes Verbot dar.
Art. 103 Abs. 3 GG sei zwar eng auszulegen. Im Rahmen seines insoweit begrenzten Schutzgehalts verbiete Art. 103 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers zwar nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten des Betroffenen sei, wie die Regelung gem. § 362 StPO zeige, darauf gerichtet, ein mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarendes Urteil aufzuheben. Verboten sei aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel, die vorrangig auf eine inhaltlich „richtigere” Entscheidung zielt. Die Rechtssicherheit, die durch ein justizförmig zustande gekommenes Urteil geschaffen wurde, erstreckt sich darauf, dass sie nicht durch das Auftauchen neuer Tatsachen oder Beweismittel infrage gestellt wird. Der Rechtsstaat nimmt die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung vielmehr um der Rechtssicherheit willen in Kauf. Neue Tatsachen oder Beweismittel ziehen die Rechtsförmigkeit und Rechtsstaatlichkeit des vorausgegangenen Strafverfahrens nicht in Zweifel und begründen daher auch keinen schwerwiegenden Mangel der ergangenen Entscheidung. Deshalb ziele die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel nicht darauf, den Geltungsanspruch der ergangenen Entscheidung zu stärken, sondern stellt diese, im Gegenteil, zur Disposition. Das gilt nach Auffassung des BVerfG auch im Hinblick auf die Belange von Opfern und deren Angehörigen. Auch der Verweis auf die fortlaufende Verbesserung der Ermittlungsmethoden führe zu keinem anderen Ergebnis. Werde die Aufklärung ungelöster Fälle mithilfe früher nicht verfügbarer Erkenntnismittel möglich, bestätige dies vielmehr die rechtsstaatliche Unbedenklichkeit der früheren, wenn auch in der Sache unvollständigen Ergebnisse.
2. Verstoß gegen das Mehrfachverfolgungsverbot
Zum Verstoß der Regelung des § 362 StPO gegen das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG verweist das BVerfG darauf, dass Grund für die Wiederaufnahme gem. § 362 Nr. 5 StPO neue Tatsachen oder Beweismittel seien. Zweck dieser Wiederaufnahme sei in erster Linie also die inhaltliche Korrektur des Freispruchs. Das ergebe sich auch aus der Gesetzesbegründung, wonach auf keinen anderen Zweck als die Korrektur des „unbefriedigenden” bzw. „schlechterdings unerträglichen” Ergebnisses verwiesen werde, das bestünde, wenn eine Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel weiterhin ausgeschlossen wäre. Die Regelung unterlaufe somit die in Art. 103 Abs. 3 GG getroffene – abwägungsfeste – Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit.
3. Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot
Das BVerfG geht zudem davon aus, dass die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten dieser Bestimmung durch rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren, das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt. Es liege ggf. eine „echte” Rückwirkung vor, die auch nicht ausnahmsweise zulässig sei. Die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO erfasse nämlich auch Freisprüche, die bereits vor ihrem Inkrafttreten am 30.12.2021 in Rechtskraft erwachsen seien. Eine andere Auslegung der ohne Übergangsbestimmungen erlas...