Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Und etwaige noch verbleibende Fragen kann man heute recht schnell mit Hilfe der vielfältigen Rechtsliteratur klären. Dennoch tut jeder Jurist gut daran, sein gefundenes Ergebnis am Ende noch einmal in Ruhe am Maßstab des eigenen Rechtsempfindens zu überprüfen. Letzteres war für den im vergangenen Jahr leider verstorbenen Egon Schneider oberstes Gebot bei aller Rechtsanwendung. Der langjährige Mitherausgeber der ZAP und Verfasser der "Logik für Juristen" galt als brillanter Jurist. Er hielt wenig von der Recherche nach – tatsächlichen oder vermeintlichen – Präzedenzfällen in Kommentaren oder Urteilsdatenbanken. Lieber verließ er sich auf sein eigenes Judiz. Danach befragt, wie er an juristische Fragestellungen heranzugehen pflegt, gab er stets zur Antwort: "Die Sache genau durchdenken und die Lösung noch einmal mit dem gesunden Menschenverstand überprüfen." Was zu ungerechten oder hanebüchenen Resultaten führt, das war seine felsenfeste Überzeugung, kann und darf auch juristisch nicht richtig sein.
Die Befolgung dieses Rats hätte man sich auch im folgenden Fall gewünscht, der vor dem Anwaltsgerichtshof in Nordrhein-Westfalen verhandelt wurde. Dort hatte sich ein Kollege berufsrechtlich zu verantworten, der eine Mandantenforderung in Höhe von 52 EUR, die von einem Amtsgericht bereits rechtskräftig abgewiesen worden war, bei einem anderen Amtsgericht erneut eingeklagt hatte – wo er allerdings ebenfalls erfolglos blieb. Weil dort jedoch zu dem Umstand der früheren Klageabweisung nichts vorgetragen worden war, wurde er später wegen versuchten Prozessbetrugs zu einer Geldstrafe von zunächst 6.000 EUR verurteilt, die im Rechtsmittelverfahren dann noch auf 1.200 EUR herabgesetzt wurde.
Teuer genug, könnte man meinen, immerhin ging es in der Angelegenheit nur um ein verhältnismäßig geringfügiges Honorar. Aber damit war der Fall noch nicht ausgestanden: Im anschließenden berufsrechtlichen Verfahren beließen es die Anwaltsrichter nicht bei einem Verweis, sondern verhängten zusätzlich eine Geldbuße in Höhe von 500 EUR. Begründung: Das Verschweigen der früheren Klageabweisung sei "in besonderem Maße geeignet, Achtung und Vertrauen der Rechtsuchenden in bedeutsamer Weise zu beeinträchtigen" (AGH NRW, Urt. v. 14.8.2015 – 2 AGH 20/14, ZAP EN-Nr. 934/2015). Dass der Kollege bereits strafgerichtlich verurteilt war, sei hier unbeachtlich: Das Strafgericht habe in seinen Strafzumessungserwägungen keine Rücksicht auf die Tatsache genommen, dass von einem Organ der Rechtspflege "eine besondere Rechtstreue und kein rechtsfeindliches Verhalten zu erwarten" sei.
Sowohl die Straf- als auch die Berufsrichter unterstellten Betrugsvorsatz, obwohl der Kollege seltsame Rechtsansichten zur zivilprozessualen Einschätzung des Vorfalls vorgetragen hatte: Es sei ihm als Anwalt überlassen, welche Tatsachen er für seinen Vortrag bei Gericht als erheblich bewerte und welche nicht. Seiner Auffassung nach sei die Aktivlegitimation kein Element der Begründetheit der Klage, sondern betreffe ausschließlich deren Zulässigkeit. Und eine mangels Aktivlegitimation abgewiesene Klage dürfe er deshalb ohne weiteres jederzeit erneut erheben.
Nur am Rande sei hierzu der Kommentar erlaubt, dass diese Argumentation so abwegig ist, dass sie fast schon wieder glaubhaft klingt. Immerhin hätte sich der Kollege auch sehr leicht geschickter verteidigen können. Und sowohl die Straf- als auch die Berufsrichter hätten durchaus stärker in Betracht ziehen können, dass der Angeklagte – ein in seiner Wohnung praktizierender Anwalt mit nur wenigen Mandaten – zuvor noch nie straf- oder berufsrechtlich in Erscheinung getreten war, was ihn deutlich von den meisten Advokaten unterscheidet, die wegen Unregelmäßigkeiten vor dem Kadi landen. Für seine Darstellung spricht zudem, dass es in der Sache finanziell um fast nichts ging.
Wie dem auch sei, in jedem Fall fragt man sich, wie er hat annehmen können, dass sich der Gegner auf den zweiten Prozess einlässt. Nun wickelt er seine Kanzlei ab und denkt vermutlich über die Bilanz nach: Gegenstandswert 52 EUR, 1.200 EUR Geldstrafe, berufsrechtlicher Verweis und 500 EUR Geldbuße. Eine rechtzeitige Beschäftigung mit dem Begriff der materiellen Rechtskraft – oder dem Rat Egon Schneiders – hätte hier wahrscheinlich das Schlimmste verhindert.
Rechtsanwalt Günter Lange, Haltern am See
ZAP 24/2015, S. 1273 – 1274